Wegweiser durch diesen Blog

Tagebuchseiten:

Hier sind meine Reflexionen über Ereignisse und Begegnungen im Alltag ebenso zu finden, wie meine Gedanken über „Gott und die Welt“ – in loser Folge, ohne Ordnung …

(Mit Beginn des Jahres 2017 erscheinen einige meiner Tagebuchseiten als Selbstgespräche . Grund dafür ist eine umfassendere Idee, die ich schon lange in mir trage. Vielleicht entsteht aus den entsprechenden Texten irgendwann ein Weg, der zu ihrer Realisierung durch mich führt. Vielleicht …)

Sentenzen:

Nachdenkliches zu Themen, die mich immer wieder und nachhaltiger bewegen und beschäftigen, die in meinem und für mein Leben zumeist eine wichtigere Rolle spielen.

Verse:

Einige meiner Versuche, Gedanken, Eindrücke, Reflexionen und Ansichten in lyrischer Form zu verarbeiten.

Gedanken zu Aphorismen:

Was immer ich auch lese, ich spüre darin aus meiner Sicht interessante Sinnsprüche auf. Einige von denen, die mich besonders inspirieren, zum Nachdenken anregen, meinen Widerspruch herausfordern, bespreche, diskutiere ich hier.

Zwischenstopps:

Texte oder Begebenheiten über die ich „gestolpert“ bin, darunter Merkwürdiges, Skurriles, Witziges, Unglaubliches – manchmal mit kurzen Kommentaren von mir versehen. (mitunter auch Musiken, mit denen ich mir einen Zwischenstopp genehmige …)

Sammelsurium:

Hier finden sich von mir verfasste, kleine Rezensionen zu Büchern, die ich gelesen habe, eigene Gedanken in Aphorismenform, die ich zur Diskussion stelle, und Sonstiges, was mir mitteilenswert erscheint.

Tagebuchseite -1037-

Kirschblütenlindgründunkel

Ich kann mich an kein Frühjahr hier in der Region erinnern, in dem schon Anfang April die Bäume ihr junges Laub auszutreiben begonnen und sich nahezu gleichzeitig bereits die meisten Obstblüten zu voller Pracht entfaltet gehabt hätten. Heuer scheint die Natur in allem fast vier Wochen voraus zu sein.

Immer ist es so gewesen, dass mich nach den grauen Herbst- und Wintertagen das Frühlingserwachen besonders berührt und wahrhaft in mich hinein gestrahlt und gezwitschert ist. Ich konnte Wärme, Klang und Helligkeit erspüren, selbst, wenn das mitunter wie durch einen Schleier geschah und bei aller bleibenden Last und Mühsal, konnte ich ein wenig dahingleiten mich bescheinen und streicheln lassen von junger Sonne und jungem Wind und es wurde ein wenig Licht in mir …

Es geschehen Dinge, die machen alles anders. Dinge, wie sie mir jetzt geschehen. Sie werfen alles durcheinander. Nichts hat mehr seinen Platz, Schönes verliert seine Rolle. Ich sehe all das Blühen und Ergrünen, es ist auch eine leise Freude darüber in mir, aber es wird kein Licht in meiner Seele.

Da ist etwas, über das ich fatalerweise nicht so schreiben kann, wie ich es wollte, wenn ich es könnte. Nicht in diesem Tagebuch hier. Es ist skurril, es ist bizarr, es lässt mich überhaupt keine Ruhe mehr finden. Ich bin orientierungslos, hilflos, werde von einer Gefühlswallung in die nächste geworfen.

Es gab dafür einen „Auslöser“, knapp eine Woche ist das jetzt her. Schon der diesen Auslöser begründende Anruf warf mich gleich irgendwie aus der Bahn. Dabei ahnte ich seinerzeit noch nicht einmal ansatzweise, was dann erst geschehen und was für einem Gefühlswirbel ich ausgesetzt sein und bleiben würde.

Der mir am nächsten stehende Mensch trauert. Trauert, wie ich es noch nie bei ihm erlebt habe. So bebend, so ergreifend, so intensiv. Er hat einen anderen Menschen verloren, abrupt, unmittelbar, heftig. Und verliert an Kraft, ist vollkommen durcheinander, immer wieder in Tränen gebadet, nahezu jeder Anlass ist geeignet, sie immer wieder zum Fließen zu bringen.

Mich rührt das an, so sehr. Und in mir ruft es: Tröste, versuche es wenigstens! Und es wäre an sich doch das Normalste, das Selbstverständlichste, Trost zu spenden, die Arme zu öffnen und Einlass zu gewähren. Ich weiß es selbst so sehr, wie schlimm, wie schwer Trauer sein kann.

Aber ich bin so zerrissen, weil es so paradox ist, diese Trauer zu teilen.

Denn sie gilt jenem Menschen, der über Jahre an meine Stelle treten durfte und darüber hinaus, an jedem Abend, an vielen Wochenenden das geben durfte, was ich nicht (mehr) konnte oder vermochte. Ich hingegen war während all dieser Zeiten allein, meiner Unvollkommenheit, meines Versagens so sehr und so permanent bewusst gemacht, dass dieses Bewusstsein zu einem immerwährenden, schwelenden Schmerz geworden ist, den ich wohl nie mehr loswerde.

Jeder Tag der Intensität der Trauer des mir am nächsten stehenden Menschen macht diesen Schmerz nur noch stärker. Es ist so furchtbar, als wenn da ein „Neid“ in mir wäre, dass einst die Trauer über mein Fortbleiben allenfalls ein Abglanz derjenigen sein könnte, die ich jetzt erleben muss und die jenem Menschen gilt, der mich ersetzt hat.

Es ekelt mich an, dass so eine Empfindungssequenz in mir lebt. Und es scheint so, als ob genau sie meinen schwarzen Hund so sehr nährt, dass all das Kirschblütenlindgrün des Frühlings kein Licht in mir zum Leuchten bringen kann. Es ist, es bleibt nur als Kirschblütenlindgründunkel da. Und ich habe kein Quäntchen mehr Kraft, als jenes, dies wie ein gebrochener Mensch zur Kenntnis zu nehmen.

Weil ich schließlich trotz all dem nicht anders konnte, habe ich vor ein paar Tagen doch meine Arme geöffnet, eingelassen, ein Anlehnen, ein Streicheln zu geben versucht.

Ge- oder verändert hat das nichts, obgleich es doch immer noch viel mehr als ein Reflex gewesen ist, der mich hat handeln lassen, wie ich gehandelt habe. Ich bereue nicht, es getan zu haben, aber letztlich hat auch dieses Tun am Ende nur noch mehr zu meinem Weh beigetragen. Denn es ist, als hätte mich dieses, mein eigenes Tun, deutlicher als nichts anderes all die Jahre spüren lassen, in denen ich meinerseits keine haltenden Arme, kein Anlehnen, gar nichts, mehr bekommen habe. Bis heute.

So gehe ich dahin während dieser Tage, orientierungslos, voller mich vollkommen überwältigender und nicht zu bändigender Gefühle und Empfindungen. Es tut so weh wie nie!

Ich sehe die Tränen, die nicht meine sind, und gehe arbeiten. Ich höre das Weinen und könnte selber schreien und darf und kann es ja doch nicht. Und es würde auch gar nichts „helfen“ oder bewirken.

Draußen ist Frühling und in der Schule lächle ich den Kindern zu.

Ich nehme meinen schwarzen Hund an die Leine. Er ist der einzige, der immer da ist. Und er ist der einzige, dem ich die ganze Geschichte erzählen kann, der einzige, der immer zuhört. Und immerhin lässt er das Kirschblütenlindgründunkel gewähren. Mehr kann ich von ihm nicht erwarten. Mehr kann ich überhaupt nicht erwarten. Und ich erwarte auch nichts mehr.

***

Maple Glider wurde im Mai 1994 in Melbourne (Australien) geboren. Sie ist Sängerin und Songschreiberin und veröffentlichte im Jahr 2021 ihr Debütalbum. Von diesem Album teile ich hier heute ein wundervolles Lied, sparsam, aber sehr schön arrangiert, mit einer sehr eingängigen, feinen Melodie und getragen von der wirklich bezaubernden Stimme der Interpretin. Hier ist:

Maple Glider – „Friend“

Tagebuchseite -1036-

Gedanken an einen Ausflug vorige Woche: „Einfach so“

Die Erde wird sich weiter drehen, solange sie denn kann. Ob ich da bin oder nicht, ist dafür unerheblich. Mein wochenlang schweigendes Telefon ist ein Indiz dafür und für so manches mehr, was ich einzusehen habe …

*

Auf der Bank, auf der ich mich niedergelassen hatte, um so über den schönen See zu sehen, wie ich das in für mich dunkler Zeit tat, als ich schon einmal hier war, streifte mich der Wind. Ich versuchte Gedanken zu erraten, die er vielleicht gerade zu mir tragen wollte. Immerhin habe ich einige noch erhoffen können.

Diese Hoffnung ließ ich fortan meine Begleiterin sein. Es war gut, dass sich die Stimmen einiger Vögel, ein paar erste wilde Frühlingsblüten, das leise Plätschern der kleinen Wellen des Sees, die über den Boden schwebende Hummel und die ersten Nektar aus einer Blüte sammelnde Biene dazu gesellten, denn sie schafften es tatsächlich, die Stimme meiner Schmerzen für eine Weile wegzulächeln.

Ich sah in den Himmel, ließ meine Blicke den ziehenden Wolken folgen, bemerkte extravagant ineinander verschlungene Geäste und staunte über die Dauer von Zeit und Weg, die ein Haubentaucher unter Wasser zu verbringen bzw. zurückzulegen vermochte.

Das schönste Geschenk ist eins wie dieses, nicht vorbestimmt, nicht geplant, nicht von diesem oder jenem, sondern einfach geschehen. Und es sollte nicht das letzte sein an diesem Tag.

*

Wenn eine Sehnsucht kein Ziel findet, kann das dazu führen, dass man an Orte gelangt, an die man normalerweise nie gekommen wäre. Orte, an die man nicht gehört, skurril, fremd, bizarr und die einen deshalb ein verstört Sein spüren lassen. Letztlich macht dieses Empfinden aber nur deutlich, wie verzweifelt die Sehnsucht ist. Je verstörter und verstörender es ist, desto größer ist wohl der Grad der Verzweiflung.

Dass der See schon einmal Zeuge einer für mich dunklen Zeit gewesen ist, habe ich in guter, angenehmer Erinnerung behalten. Trotzdem hat es mehr als neun Jahre gebraucht, bis ich wieder zu ihm gehen konnte. Und, ja, ich habe nun viel nachdenken müssen, alte Bilder und neue zogen durch meine Seele, Bilder die, merkwürdig einschüchternd, eng verwandt miteinander sind.

Ich kenne mich jetzt besser als damals, weiß mich und in mir genauer zu lesen. Verabscheue mich nicht mehr ganz so sehr, bin für vermeintlich Kleines oder Unscheinbares noch dankbarer als ehemals. Sogar dann, wenn ich es an jenen skurrilen, fremden, bizarren Orten finde.

Die Orte werden deshalb keine besseren, meine Verunsicherung nicht weniger und mir wird auf eine Weise bewusst, wie das noch nie zuvor geschehen ist, dass es nicht immer gut ist, sich umfassender zu erkennen, mehr über sich zu wissen und immer noch mehr über sich zu erfahren.

*

Während ich weiter ging, bis in die Stadt hinein, begann mein linker Fuß mehr und mehr zu schmerzen, wie er das seit Monaten tut, ohne dass ich dem Abhilfe schaffen kann. Ich wählte den Weg hin zu jener Seite, die mich als kleinen Jungen am meisten gesehen hat. Immer, wenn ich heute dort bin, wird die Sehnsucht besonders stark, der Status meines heutigen Ich besonders präsent. Ambivalent, nicht angenehm. So, dass ich ihn, dass ich mich, wegwischen möchte.

Ich entdeckte jenes Fachwerkgebäude wieder, neben dem sich ehemals ein Bäcker mit einfachen aber fantastischen Salzbrötchen befunden hatte. Für einen Moment hatte ich ihren Duft und ihren Geschmack in meinen Sinnen. Vor dem Gebäude, das heute unter anderem ein Museum beherbergt, in dem neben einer Dauerpräsentation auch wechselnde saisonale bzw. Wanderausstellungen gezeigt werden, lud mich ein Plakat zu „Fotografie und Lyrik“ ein.

Nach meiner Wanderung am See entlang in die Stadt hinein hätte mir, wie sich herausstellte, nichts Besseres passieren können. – Ich unternahm eine Reise durch verschiedene Naturlandschaften, eindrucksvoll, mit besonderer Technik fotografiert und in Szene gesetzt, begleitet von sie beschreibenden und in interessante Kontexte setzenden Versen von spezifischer Klarheit und Schönheit.

Was am Vormittag, die plätschernden Wellen des Sees, das leise Summen der ersten Biene und das Vogelgezwitscher gewesen waren, waren nun die wunderbaren Sprachen der Künste der beiden Frauen, die ihr gemeinsames Werk hier ausgestellt hatten. Am liebsten hätte ich einige der Bilder und Verse wahrhaftig mit mir genommen. –

Aber ich bin froh, dass mir das besondere Erreichen meiner Seele, meines Wesens als Erinnerung verbleiben wird als das zweite Geschenk dieses Tages, das einfach so geschah.

*

Die Erde wird sich weiter drehen, solange sie denn kann. Ob ich da bin oder nicht, ist dafür unerheblich.

Sie dreht sich. Einfach so …

***

Brödet ist eine fünfköpfige schwedische Band aus Stockholm. Sie verfolgt einen besonderen Stil des Indie-Pops, der vor allem viele elektronische Elemente enthält, dessen Stücke überwiegend in langsamem Tempo daherkommen und von der schönen Stimme der Sängerin Stella Cartrier untermalt und getragen werden. Viel mehr erfahren konnte ich über die Gruppe, die außerhalb ihres Landes aber wohl trotz mehrjährigen Schaffens kaum bekannt ist, leider nicht. Ihre Musik gefällt mir freilich sehr, unter anderem dieser Track hier:

Brödet – „Until the Morning“

Tagebuchseite -1035-

Über meine letzte Poesie …

Die letzte Poesie darf leise sein. Das ist ihr Privileg und ihr Schutz. Die Wenigen, die sie wirklich hören mögen, die sie verstehen, hören sie auch so. Sie lieben und schätzen ihre Stille. Worte auf Gedankensaiten, die nicht gesprochen werden müssen, weil ihre bloße Existenz die sensiblen Seelen zum Schwingen zu bringen vermag. So wie deine und meine.

Ich beginne zu realisieren, zu verstehen, dass diese Sprache nun meine ist. Die einzige, die meine wahre und wirkliche ist, einziges und letztes Medium, in das meine Seele sich beständig einkuscheln kann und in dem sie sich verstanden und behütet fühlt. Sie braucht diese Beständigkeit so sehr, nur darin kann sie noch Halt finden. Das ist, was zählt.

Einen anderen Halt gibt es nicht mehr. Das habe ich während der letzten Wochen verstanden. Zu Hause sind die Sprachen fremd geworden, so sehr fremd, dass ich nun begriffen habe, dass sie es auch bleiben werden. –  Und im Alltag braucht es andere Sprachen, um zu „bestehen“.

Ich wünsche mir immer noch, dass die mir bekannten Seelen, die die leise Poesie spüren können, örtlich näher wären. Es ist immer noch schwer, mich damit abzufinden, dass dieser Wunsch das bleiben wird, was er ist. Aber ich bin glücklich, dass diese Seelen doch immerhin da sind. So ist immer noch ein bisschen Dialog und ich bin und bleibe dankbar für die einzig gewordene Schönheit, die feinen Klänge ihrer Gedankensaiten spüren zu dürfen – das letzte menschliche Streicheln, das meine Seele noch von außen geschenkt bekommt.

Ansonsten habe ich nur noch das Bedürfnis bei mir zu sein, mit meinem inneren Ich zu sprechen, mit ihm den Alltag und die vielen Meldungen, die so ein schlimmes Bild von unserer Welt zeichnen, so zu reflektieren, wie das für mich wichtig ist und wie ich mir das immer gewünscht habe: Zuhörend, sachlich, versuchend, offen und kritisch zu bleiben und Kraft für Liebe zu gerieren, die nach wie vor nicht nur in mir bleibt, damit meine Seele ein bisschen Heilung erfährt, sondern immer wieder auch andere Menschen zu erreichen vermag.

Filter, die die Einwirkungen der Umwelt schon immer nur ganz unzureichend abzuschirmen vermochten, verschleißen mit den Jahren immer mehr und immer schneller. Irgendwann sind sie ganz weg. So habe ich es jedenfalls an meiner Person erfahren. Dann wird das innere Ich zu einem schutzlosen Wesen, mehr Kind denn je.

Als ich wirklich Kind war, ist es nie so schutzlos und verletzlich gewesen wie heute. Ich bin der Letzte, der noch da ist, es ein bisschen zu behüten. Nie waren wir beide so aufeinander angewiesen, wie jetzt. Das habe ich nun verstanden.

Die Sprache der letzten, der leisen Poesie, ist die uns gemäße, jene, die zu uns passt.

Ich habe sie zu uns eingeladen. Es schenkt mir Freude sie als Dritte im Bunde mit uns beiden, die wir untrennbar eins sind, zu wissen. Wir werden sie bei uns haben, werden sie nutzen, wenn wir zueinander sprechen, während wir uns trösten, uns pflegen, uns zu heilen versuchen. Und wir werden immer besonders beschenkt sein, wenn wir spüren, dass, wie fern auch immer, jemand unsere Sprache zu hören vermochte und uns in ihr eine Resonanz empfinden lässt.

Wenn eine Poesie Liebe ist, dann ist sie es.

*

Wann und wo sie geboren ist, konnte ich nicht ermitteln. Es scheint fast so, als sei sie in die Öffentlichkeit getreten, auf dieselbe Art wie ich zu ihr gefunden habe: Plötzlich, ohne Vorankündigung. Sie ist Victoria Bigelow eine Us-amerikanische Sängerin und Songschreiberin aus Nashville. Sie bewegt sich vor allem auf dem Gebiet des alternativen Indie-Pops und pflegt dabei einen ganz eigenen, unverwechselbaren Stil. In Deutschland ist sie bisher wohl kaum bekannt.

Mit ihrer außergewöhnlichen Stimme, die ein bisschen an Cat Power, vor allem aber an Hope Sandoval erinnert, warm und verzaubernd und ebenso sanften, manchmal lasziv erscheinenden und leicht melancholischen Arrangements, lässt sie vor allem die Gitarre agieren und durch die Melodien führen. Das Ergebnis sind sehr schöne Lieder, deren Texte überdies viel zu sagen haben und inspirieren. – Ein ganz aktuelles Beispiel für all das ist das nachfolgende Lied:

Victoria Bigelow – „Under the tree“

Sammelsurium -135- (Fünf Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Die Stille auf den Blättern meines Tagebuchs ist keine leise. Leere Seiten können so laut sein.

In den Lärm, in die Unruhe, die sie bergen, lege ich wieder einmal ein paar aphoristische Gedanken, die keinem Pfad und keiner Regel folgen, die aus mir gekommen sind, an Morgen, an Abenden, in Nächten, an den unterschiedlichsten Orten … :

Die schönsten Orte sind dort, wo unsere Sehnsüchte auf Antworten treffen.

*

Erst im Kontext mit vielen Anderen ist ein Mensch einzigartig und ist darin doch ganz allein.

*

Wie bizarr das ist: Erst ein Pass macht heutzutage einen Menschen.

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Keine Despotie, keine Autokratie, die Bürokratie ist jene Herrschaftsform, die die Demokratie tatsächlich zu besiegen vermag.

*

Sollte es nochmals eine Sintflut geben, wird man das vormalige Gebiet Deutschlands unzweifelhaft daran erkennen können, dass dort die meisten Formulare oben schwimmen werden.

**

Schnipsel (31)

Was noch ist

Endlich war die Tür hinter ihm zugeschlagen. Mit einem letzten großen Schritt, der kaum noch die Schwelle zu erreichen vermochte, hatte er es doch wieder geschafft. Geschafft auf die Insel der Zeit, die nichts forderte. Eine sehr kleine Insel, die er bald würde schon wieder verlassen müssen …

Aber nun war er gerade angekommen und es war Stille, wahrhaftige Stille.

Jetzt, in diesem ersten Moment der Ruhe, fühlte er, wie alles von ihm gegangen war.

Ja, es war schon fort, aber er spürte es erst jetzt. Und es fühlte sich sogar schön an.

Dass er selbst es war, der nun fort war, dass er es war, der sich schon längst verloren hatte, ohne es bemerkt zu haben, das realisierte er erst Tage später, dann aber mit jeder Stunde, jeder Minute mehr, intensiver, schmerzhafter.

Es waren jene wenigen Tage, die die kleine Insel ihm hatte bereithalten können, während der er hier einen winzigen Traum und dort einen bescheidenen Wunsch leben wollte. Das, was ihm noch einmal die Kraft verliehen hatte für jenen letzten großen Schritt auf die Schwelle der Tür, die den Alltag für einen Wimpernschlag hinter ihm zurückließ.

Aber nun war er ja fort, hatte sich irgendwo, irgendwie verloren.

Und so war niemand mehr da, der den Traum oder den Wunsch hätte leben können.

So ging die Tür wieder auf und stoisch verließ sein furchtbar stark gewordener Schmerz die kleine Insel hin zum Alltag, dem er nie entkommen konnte, obwohl er doch längst darin verloren gegangen war.

Schmerz:  Das Leben, das er noch war, das er noch ist.

***

Als Schlagzeugerin, Sängerin, Vibraphonistin, Komponistin, Autorin und treibende Kraft ihres Soloprojekts ist Isolde Lasoen (geboren am 31.12.1979 in Brügge – Belgien) eine echte DIY- und unabhängige Künstlerin. Ihr Stil kann als Vintage, cineastisch, jazzig, reichhaltig, melancholisch und eklektisch beschrieben werden. Charakteristisch sind ihr Schlagzeug, ihre verführerische Stimme, beeindruckende Arrangements und schöne Instrumentalstücke. Isoldes Musik ist voll von eingängigen Melodien, episch anmutenden Kompositionen, dramatischen Akkorden und orchestralen Streicherarrangements. Weniger ist mehr, außer in der Musik.  (© Isolde Lasoen auf spotify)

Das wunderbare Lied, das ich heute hier teile, singt sie gemeinsam mit dem 1963 in Bastia auf Korsika geborenen Musiker, Komponisten, Produzenten und Sänger Bertrand Burgalat.

Isolde Lasoen feat. Bertrand Burgalat – „Douce Mélancolie“

Verse -103-

Von der Kraft der leisen Stimmen

Auch Stimmen können ein Streicheln sein,
ihr Timbre, ihre Zartheit, ihr Klang.
Und tragen sie Worte behutsam und fein,
empfinde ich Hoffnung und Dank:

Für Schönheit, die klingende Botschaft ist,
für Rücksicht und Liebe und Frieden.
Nur sie ist das Medium für Kompromiss,
wo Hass und Gewalt noch obsiegen.

Die Stimmen zu lauschen, braucht's Wille,
denn sanft ist ihr Credo, niemals der Schrei.
Sie wissen: allein auf den Feldern der Stille,
wird Wechsel von Worten wirklich gedeih'n.

Auch Stimmen können ein Streicheln sein
das hab ich schon manchmal erfahren,
mit Liebe lassen sie Fesseln entzweien,
die vormals Gefängnisse waren.

So bitt' ich, dass nie Melodien verklingen,
voll Ursprung, Licht und Fantasie,
so wie die Mädchen und Vögel sie singen
und streichelnd durch die Welten zieh'n.

***

Joyce Jonathan wurde am 3. September 1989 in Frankreich geboren. Sie studierte in Paris Psychologie, interessierte sich aber von Kindesbeinen an schon sehr für Musik. Schon mit sieben Jahren erlernte sie das Klavierspiel und begann heimlich erste Lieder zu komponieren. Mit den Aufnahmen für ihr erstes Album begann Joyce im Jahr 2008.

Heute ist sie eine vor allem in Frankreich angesehene Sängerin und Songschreiberin, die für ihre Songs und Alben mehrfach Auszeichnungen erhalten hat. Ende 2020 wurde sie Mutter eines kleinen Mädchens.

Das Lied, das ich heute hier teile, hat eine feine Melodie und stammt von ihrem sechsten Studioalbum, welches im Jahr 2022 erschien. Es erzählt von der Wichtigkeit und Schönheit, sich einen Blick für die vermeintlichen Kleinigkeiten im Leben zu bewahren. Hier ist:

Joyce Jonathan – „Les p’tites jolies choses“

Tagebuchseite -1034-

Auch am Ende möge ein Wort sein

Im Anfang war das Wort„, so beginnt der Text des Johannesevangeliums in der Bibel.

Obwohl ich, wenn überhaupt, auf ganz eigene Weise gläubig bin und ich mir einen Gott nur im Sinne eines Weltgewissens vorstellen kann, hat mich dieser Satz immer wieder besonders berührt und gefordert, über ihn nachzudenken. Je mehr ich Worte und Sprache schätzen und lieben gelernt habe, desto stärker sind diese Berührung und diese Herausforderung geworden.

Die Bibel wird auch „Gottes Wort“ genannt und in ihr wird davon berichtet, dass die Welt, die Menschen, Gottes Wort entsprechend, entstanden sind. So wie er gesprochen hat, ist alles geworden.

Für mich war und ist das ein Hinweis auf die große Macht des Wortes.

Wenn ich bedenke, dass wir Menschen die einzige bislang bekannte Spezies sind, denen Wort und somit Sprache gegeben ist, dann erklärt sich daraus für mich die Möglichkeit von Macht, die einzelne oder mehrere Menschen erlangen können. Und ich erkenne, wie sehr die damit in Verbindung stehende Machtmöglichkeit heutzutage „ausgereizt“ und immer mehr und immer häufiger gegen andere Menschen gerichtet wird.

Das Handeln der Menschen besteht aus Taten und Worten. Wir haben somit nicht nur eine Verantwortung für unser Tun, sondern in besonderer Weise auch für unser Reden, für unsere Worte, denn Tun wird grundsätzlich von Worten ausgelöst und begleitet. Sie können beleidigen, verletzen und sogar töten und in diesem Sinne ausgerichtetes Tun auslösen, anfeuern, rechtfertigen. – Und leider, so nehme ich es nun schon lange wahr, nimmt diese Entwicklung in unseren Zeiten immer noch mehr Fahrt auf.

Spezifisch menschliche Werte gehen immer stärker verloren, je mehr der Wert von Wort und Sprache nicht mehr selbst als spezifisch und ureigen menschlicher Wert begriffen und gelebt wird. Die Folgen von Worten werden kaum noch beachtet, vielmehr, so scheint es mir, oft ganz bewusst ausgeblendet.

Es geht darum, recht zu haben, stärker, mächtiger (sic!) zu sein als andere, im Sinn von Überlegenheit, von Herrschaft, von Unterdrückung. Sich dem anzuschließen, was viele oder Mächtige sagen, ist bequem und verheißt Anerkennung. Man wird „unangreifbar“, wenn man zu vielen, zu Mächtigen gehört. Im Zweifel reicht es, wenn man es wenigstens so fühlt, das überspielt im Zweifel eigene Ängste, die doch nur Schwäche bedeuten.

Und es gibt so viel Schwäche.

Laut ist stark, leise ist schwach. Laut reden ist stark, leise zuhören ist schwach. Schnell und „einfach“ reden ist stark, langsam und umfassend erklären, hinterfragen und differenzieren sind schwach.

Dabei ist das Wort eine große Gabe, ja ein Geschenk. Sprechen aber lernt man durch Hören, durch Zuhören. Wenn wir einander nicht mehr zuhören, reden wir immer mehr aneignender vorbei. Und je lauter und unzugänglicher für eine andere Ansicht wir das tun, desto weniger werden wir uns verstehen, werden wir zu Kompromissen finden, werden wir mitmenschlich miteinander umgehen können.

Für mich ist das so klar: Am Anfang, im Verlauf und vor allem am Ende muss ein Wort sein!

Am Ende das Wort „Danke“. Danke dafür, dass du mir zugehört hast, Danke, dass du mich zu verstehen versucht hast. Danke, dass du nachgedacht und mir dann ein Stück weit entgegengekommen bist. Danke, dass wir ein Stück des Weges gemeinsam und in Eintracht handeln und uns dann wieder sprechen können.

Es ist mir so klar und doch komme ich mir vor wie ein einsamer Rufer.

Wer liest solche Gedanken? Wer ist bereit, sich solche Gedanken anzuhören? Wer wird versuchen, sie für sich anzunehmen und künftig zu beherzigen? WIRKLICH zu LESEN, ZUZUHÖREN, ZU BEHERZIGEN?

Ich habe nur meine Worte und mein bisschen Liebe. Und ich bin nicht Gott. Ich kann reden, aber das es so wird, wie ich es sage, kann ich nicht erwarten, nicht einmal hoffen.

Bleibt mir wirklich nur zu beten, dass auch an jedem Ende, ein Wort sein wird, weil nur ein Wort noch Aussicht verheißt, und nicht ein letzter, ein „finaler“ Schuss?

***

REAVE sind eine Ende 2019 gegründete Synth-Pop-Indie-Band mit Sitz in Manchester und London. REAVE besteht aus Enya Phillips, die auch die Sängerin der Gruppe ist, Rory Ward und Brandon Darby. Ihre Songs schreiben sie gemeinsam. Das Debütkonzert von REAVE fand am 23. Juli 2021 im Night & Day Café im Northern Quarter von Manchester statt.  Ihre erste Single „Get To Know Me“ –  erzählt die Geschichte eines sich Kennenlernens und ist wunderbar zu hören:

REAVE – „Get to know me“

Tagebuchseite -1033-

Von der Metapher, die ich geworden bin …

Obwohl der Winter noch gar nicht fortgegangen war, ist er gestern zurückgekommen. Es war unwirtlich windig draußen und der Wind trug unzählige Nieselschneeflocken mit sich, welche sich wie ein weißer Zucker auf dem roten Schindeldach gegenüber niederließen.

Ich weiß wohl, dass das nicht so bleiben wird, der Tag heute hat zwar weiterhin ein tristes Grau, aber der Schnee ist schon wieder verschwunden. Und in ein paar Wochen wird es auch wieder etwas wärmer sein und die ersten leuchtenden Knospen kleiner Frühjahrsblüher, die ich vor wenigen Tagen schon erspähen konnte, werden ihre Blüten weit geöffnet haben und die Vögel werden begonnen haben, ihre Lieder wieder in Gänze und Schönheit erklingen zu lassen.

Darauf freue ich mich. Aber die Sehnsucht danach ist und bleibt eine, die Traurigkeit atmet. Denn das unwirtliche, windige und kalte Grau, ist seit nun schon Monaten die Metapher, die eins geworden ist mit mir. So sehr, dass ich begonnen habe, Trost in ihr zu finden, sie als einen großen Teil meiner Heimat zu akzeptieren. Denn da ist nichts, was verheißt, dass mein schwarzer Begleiter mich bald oder überhaupt noch einmal verlassen wird. Und so versuche ich ihn also anzunehmen.

Ich finde Geborgenheit in traurigen Melodien, weil ich fühle, dass sie mich verstehen. Ich betrete Bilder und Fotos, auf denen es keine Menschen gibt, gehe tief in sie hinein, ihre Natur, und ich höre und sehe ALLES, was sonst niemand hört und hören kann. Und ich umarme die Wiesen, Wasser und Wälder dieser Bilder dafür, dass sie mir dies Erleben, diese Tiefe, schenken.

Eine wundervolle Stimme dringt an mein Ohr. Ich lege mich auf ihren süßen Klang und lasse mich von ihren Schwingungen tragen und bitte darum, dass sie nie aufhören möge, da zu sein, so unerreichbar ihr Ursprung für mich auch ist und bleiben wird.

Der Wunsch nach Geschichten, die von schönen Charakteren, von rücksichtsvoll gesetzten Worten und sensiblen Träumen, von Frieden und Menschen, die Liebe in sich tragen, erzählen, ist unermesslich groß in mir geworden. Ich möchte Zeit und Gelegenheit finden, mich in diese Geschichten zu begeben, begehre und bitte, dass sie mir die Welt, die mich als Realität umgibt, zu vergessen und zu verlassen helfen. Für immer!

Ich weiß, dass dieser Wunsch und all die Flüchte in jene Melodien, Bilder, Stimmen, die ich beschrieben habe, zugleich Teil und Grund meiner Traurigkeit sind, weil sie entweder unerfüllbar oder nur zeitweilig erreichbar sind. Die eigentliche Ursache für mein Sein, wie es geworden ist, ist aber die reale Welt und meine Ohnmacht und Unfähigkeit, mich ihr stellen und in ihr bestehen zu können, so, dass ich Lebenswürdigkeit empfinden und den Hunger meines Gewissens stillen könnte.

*

Die kleine Blume am Wegesrand, die aufrichtigen, erwartungsvollen Augen des Kindes, der Gesang der Blaumeise, das stille Dahingleiten des Schwans auf dem Wasser, die sanfte Stimme und das nicht urteilende Verstehen der letzten Freundin, das aufopferungsvolle Weitermachen der vielen Schwachen, Benachteiligten, Unterdrückten, die Liebe, die die Leisen schenken – sie sind jene Schönheit, die mir die schmerzhafteste geworden ist, weil ich spüre, wie sehr sie mich umarmen möchte.

Ich aber bin der Umarmungen längst entwöhnt worden …

**

„Sinister Seduction“ ist ein Gothic-Darkwave-Duo, das seit 2021 zusammen Lieder schreibt. Der eine Teil des Duos ist der aus Stuttgart stammende Matthias Blind. Er konnte die in Ungarn aufgewachsene Judith Agnes Soyka als Sängerin gewinnen, die aber auch an vielen Liedern mitschreibt. Auch den Bandnamen haben die beiden gemeinsam ausgesucht.

Die Lieder sind überwiegend sehr melodisch und von viel Melancholie, Traurigkeit und zum Teil auch Resignation geprägt. Etliche von ihnen gehören zu jenen, von denen ich oben schrieb, dass ich mich darin (wenigstens in Teilen) verstanden fühle. Die Melodien berühren mich häufig sehr. Sie sind meist sehr schön. Ein Beispiel für all das möchte ich heute hier teilen, es ist das Lied vom gefallenen Engel:

Sinister Seduction – „Gefallener Engel“

Sammelsurium -134- (Sechs Sprüchlein und ein Lied)

Ich bin sehr, sehr nachdenklich seit dem Jahreswechsel, habe mich, der ich mich irgendwann vor dem letzten Weihnachtsfest verlor, immer noch nicht wiederfinden können. Ich weiß, wer ich bin und bin mir doch so fremd.

Ich bin der ich bin und bin doch nicht Ich. Die Welt tut, was sie will, mit mir. Und ich kann ihr nicht entfliehen. Das ist mein Status quo.

Ich bin (m)ein Status quo.

Aus diesem geboren sind in letzter Zeit wieder einige aphoristische Gedanken zu jener Materie geworden, die ich auf Papier oder hier in meinem Tagebuch archivieren oder auch teilen kann.

Wer will, mag darüber sinnen, streiten, sich oder mich befragen:

Es gibt keine Träume, die verboten sind.

*

Lügen werden erst durch den Verstand. Ein Herz lügt nie.

*

Wirklicher Reichtum hat so gar nichts mit Geld und Vermögen zu tun. So kommt es, dass so viele reiche Menschen in bitterer Armut leben.

*

Lügen haben keine kurzen Beine. Wie sollten sich so viele von ihnen sonst derart schnell und weit zu verbreiten imstande sein?

*

Schönheit ist nur, wenn Zweisamkeit ist. Das gilt auch, wenn du allein bist, mit dir; deiner Seele. Die Freude, die sie dir dann schenkt, ist zugleich aber auch immer Schmerz und Traurigkeit.

*

Ein Mensch mit einem starken, strengen Gewissen, läuft Gefahr, nicht mehr frei sein zu können.

***

Im vergangenen September habe ich hier erstmals ein Lied von „Tränen“ geteilt. Inzwischen ist das erste Album des bemerkenswerten Duos erschienen, auf dem sich meiner Ansicht nach viele interessante und hörenswerte Lieder befinden. Eins der besonderen darunter ist: „Zu alt geboren“.

Tränen – „Zu alt geboren“

Tagebuchseite -1032-

Glimmende Wünsche

Ich trete durch das Tor, das die Raunächte hinter mir lässt, das stille Leuchten in der Finsternis verlischt.

Was ich mitgenommen habe, ist die Leere, die das Ende des vergangenen Jahres in mir ausgebreitet hat. Ich finde mich auf ihrem kahlen Boden und weiß, dass ich seit vor der Weihnacht dort bin als alles verglühte, was ich bis dahin mit letzter Anstrengung am Brennen gehalten hatte.

Seither ist alles fort und nichts zu mir gekommen. Wo mich sonst die sanfte Ruhe der Raunächte erreichte, sah ich wohl noch die zarten Lichter. Aber in mir war es schon dunkel und das blieb es auch.

Irgendwie bin ich doch ins neue Jahr gekommen. Der Rauch der für mich viel zu lauten Silvesternacht ist als Grau geblieben, das nun Farbe meiner Leere ist.

Ich hatte nie Vorsätze für ein neues Jahr. So auch diesmal nicht. Aber ich habe ein paar wenige, kleine Wünsche, die so sehr bitten, lebendig werden zu dürfen, zu können, in diesem neuen Jahr. Ich höre ihr Flehen in meiner Leere und das rührt mich sehr, sehr an.

Aber ich habe keine Ahnung, ob sie je wahr werden können.

Denn da ist diese Welt, die so geworden ist, dass ich sie nicht mehr verstehe und dass ich den maßgeblichen Menschen darin nicht mehr folgen mag und ihnen widerspreche. Leise, weil ich es anders nicht darf. – Wie soll ich eine solche Welt Kindern erklären, ihnen Fähigkeiten und Optimismus vermitteln, in dieser Welt zu leben? Genau das aber ist meine alltägliche Aufgabe.

Ich bin nur noch Leere, und ein Grund dafür ist, dass ich an dieser Welt mehr und mehr zerbrochen bin. Nun bin ich selbst kaputt. Die zarten Lichter der vergangenen Raunächte waren eine letzte Sehnsucht.

Da wo ich ihn vermeintlich einmal hatte und wo er doch immer noch sein sollte, ist kein Halt für mich mehr, kein Netz, das mich auffängt und zur Ruhe kommen lässt. Und vor allem ist da keine Nähe mehr. Die Hoffnung, dass sich das noch einmal ändern könnte, ist gestorben.

Auch das ist ein Grund für die Leere.

In den letzten Tagen des verflossenen Jahres, während der ich mich erholen sollte und wollte, habe ich mich manches Mal vollkommen verloren. Wohl in der eigenen Leere.

Wenn nichts anderes mehr fühlbar ist, dann kann man sich in Leere verlaufen. Eine neue Erfahrung für mich. Eine verstörende, eine traurige.

Ich bin nicht im Reinen mit mir, dass es so gekommen ist.

Nun bin ich hier, mit meiner Leere durch das Tor gelangt, ins neue Jahr. Was ich außer der Leere fühle, sind Beklommenheit und Angst. Ich entzünde meinen kleinen Wünsche, auf dass sie glimmen im leeren Grau und vielleicht ein kleines Flämmchen werden gegen das, was ich empfinde.

So glimmen in mir:

  • der Wunsch für eine kleine Reise
  • der Wunsch Kraft und Ressourcen zu finden, zu bleiben und in Würde bleiben zu dürfen
  • der Wunsch nach einer schönen, besonderen Umarmung
  • der Wunsch, mich ein bisschen wiederzufinden
  • der Wunsch von den Menschen, die, obwohl viele von ihnen sehr fern, doch nah in meinem Herzen sind, nicht verlassen zu werden

***

eee gee sind die Initialen der dänischen Sängerin und Songschreiberin Emma Grankvist (33), die mittlerweile, mit einem Amerikaner befreundet, in New York lebt. Erst seit 2022, damals nahezu mittellos, steht Emma auf der Bühne, erreichte aber mit ihren melodisch eingängigen, mal romantischen, mal ernüchternden, immer textstarken Popmelodien, aus denen Hoffnung und Ironie gleichermaßen klingen, schnell Aufmerksamkeit.

Dennoch ist sie wohl immer noch eher ein „Geheimtipp“. Auch deshalb habe ich mich entschlossen, ein Lied von ihr aus ihrem neuen, 2023 erschienenen Album „SHE-REX“ hier zu teilen, ein sehr schönes, wie ich finde:

eee gee – „Promise to pick up the phone“

Tagebuchseite -1031-

Von den Paradoxen meiner verbleibenden Zeit und der Rolle eines „schwarzen Hundes“ darin

Manches Mal habe ich schon über die Zeit nachgesonnen und geschrieben, diese unfassbarste Dimension von allen, die so sehr vom Menschen erdacht und für ihn gemacht erscheint und doch am unabhängigsten von ihm ist.

Je weniger Zeit mir bleibt, desto mehr und intensiver ist sie mir präsent und denke ich nach über sie.

Dabei ist die Beobachtung bzw. Wahrnehmung, dass vor allem rückblickend die Jahre immer schneller zu vergehen scheinen, wohl diejenige, die den meisten Menschen mit zunehmendem Lebensalter begegnet.

Für mich ist dieses Empfinden ebenso faszinierend wie beängstigend, denn es ist das Bewusstwerden darüber, dass immer weniger von dem realisier- und erlebbar ist oder sein wird, was einem noch wichtig ist oder erscheint, dass Träume für immer Träume bleiben werden. Der an sich schöne und positive Nebeneffekt, dass im Unterschied zur Jugendzeit Langeweile im fortgeschrittenen Leben immer weniger und schließlich gar nicht mehr vorkommt, vermag das nicht aufzuwiegen.

Ich erinnere mich daran, dass schon früher älter werdende Generationen reflektiert haben, dass es ihnen zunehmend schwerer falle bzw. es tatsächlich schwieriger sei, am „Puls der Zeit“ zu bleiben respektive diesem zu folgen.

Das nehme ich für mich persönlich ebenso wahr, wobei ich zwei Tendenzen sehe:

Die eine ist die, dass Abläufe wirklich immer zügiger, schneller, hektischer erfolgen, die Geschwindigkeit von Entwicklungen ebenso wie deren Verfall, dass Veränderungen, die Tempi des Lebens, fortgesetzt rasanter geschehen oder verlaufen und die Zeitmaße von Beständigkeiten immer kleiner, immer kürzer werden.

Die andere Tendenz ist, dass es mir zumindest so scheint, als dass ich selbst immer langsamer werde. Nicht nur, dass es da mittlerweile Dinge gibt, für die ich noch vor wenigen Jahren gar keine Zeit aufwenden musste, die ich jetzt aber zwingend in meine Tagesabläufe integrieren muss (beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen) und die mir Zeit rauben. Vielmehr glaube ich auch zu bemerken, dass ich mehr Zeit benötige Dinge zu erledigen, die mir vormals leichter oder schneller von der Hand gegangen sind.

Ein Stück weit, so vermute ich, werden dafür meine psychischen Macken verantwortlich sein, mein Wächter Gewissen, der auf keinen Fall darin nachlässt, sehr streng mit mir zu sein. Wenn aber Akribie und Pedanterie Bestand haben oder sich sogar noch steigern, während andererseits, die „natürlichen“ Ressourcen und Kräfte dafür, zielgerichtet, konsequent und effizient zu handeln, abnehmen, verwundert es nicht, wenn ein immer größer werdendes Dilemma entsteht und manifest wird. Und genau das nehme ich wahr, sehr schmerzlich.

Beide Tendenzen in ihrer realen alltäglichen Kombination lassen mich immer häufiger atemlos werden und sein, führen zu Frustration und der Überzeugung und wohl auch Tatsache, immer weniger genug sein zu können.

Und die Zeit läuft unablässig weiter und gefühlt immer schneller (ab) …

Diesen Prozess, diesen Verlauf, hält nichts und niemand auf. Da ist kein Netz, was mich auffangen könnte. Ich falle und die Fallgeschwindigkeit nimmt zu.

Und wie paradox: Je weniger ich am Leben hänge, desto mehr hänge ich daran.

Und wie abstrus: Ich glaube, dass dieses Paradoxon ein gut Teil Ursache dafür ist, dass der „schwarze Hund“ inzwischen mein ständiger Begleiter geworden ist, gar nicht mehr von meiner Seite weicht, sich so sehr an mich anschmiegt, dass ich manchmal kaum noch einen Schritt zu setzen vermag. Der schwarze Hund, der früher, wenigstens zeitweise, mitunter noch Ausflüge in andere Reviere unternommen hat, er ist beständig geworden. Doch nicht ich bin sein Herr (war es auch nie), sondern er ist es. Und er hat nun offenkundig entschieden zu bleiben, er hat sich eingerichtet.

Wer solch einen ständigen Begleiter hat, stößt vor allem seine Nächsten ab, wofür es viele Gründe gibt, die aufzuzählen bzw. zu reflektieren hier zu weit führen würde. Das musste ich erfahren und erfahre es weiter. Das lässt meine Zeit noch schwerer sein.

Und so ist es zur dritten Absonderlichkeit gekommen: Je mehr ich am Leben hänge, desto müder werde ich seiner.

Die weniger werdende Zeit, die mir bleibt, ist so mehr denn je eine des Kämpfens, des Durchhaltens und des Sehnens, um so mehr, je länger mein Alltag noch von beruflichen Verpflichtungen und vor allem der Verantwortung gegenüber anderen, und in meinem Fall zuvorderst jungen Menschen, bestimmt wird. Und das ist, im Verhältnis gesehen, doch noch eine lange Zeit.

Rückblickend werden diese Jahre dann wohl auch wieder so schnell vergangen sein, wie keine zuvor und schneller denn je, wird noch weniger Zeit übrig sein für das Verwirklichen letzter kleiner Träume, für lebenswertes Leben.

So ist der Verlauf der Zeit, meiner Zeit, der Zeit, die ich spüre und empfinde und die als Teil der großen unendlichen Zeitdimension so unabhängig von mir ist, wie es unabhängiger nicht möglich ist.

Nur die Zeit ist wirklich frei … (… weshalb Jahreswechsel nur eine menschengemachte Einbildung sind.)

***

Geowulf ist ein Dream-Pop-Duo, bestehend aus Star Kendrick und Toma Banjanin. Ursprünglich aus Australien stammend, leben die beiden seit 2011 zwischen Berlin, London und Göteborg. Ihren ersten Track „Saltwater“, den ich vor gut fünf Jahren hier in meinem Tagebuch geteilt habe, veröffentlichten sie im Juli 2016. Später wurde er durch die Verwendung in einem Corona Extra-Werbespot zu einem Indie-Hit.

Im Dezember 2022 gab Kendrick bekannt, dass Banjanin sich von Geowulf zurückziehen und es zu Kendricks musikalischem Soloprojekt machen würde. Ihre Single „Must Be A Woman“ ist die erste Geowulf-Veröffentlichung ohne Banjanin. –

Der wundervolle Song, den es nun hier zu hören gibt, ist allerdings vom letzten, gleichnamigen, gemeinsamen Album, das Ende 2022 erschien:

Geowulf – „Whirlwind“

Tagebuchseite – 1030-

Vom Reden mit meinem Vater in diesen Tagen

So oft höre ich davon, dass es immer neue Träume, Bedürfnisse, Ziele geben müsse, damit man nicht stehenbleibe oder es gar einen Rückschritt gäbe. „Du musst etwas erreichen wollen, und wenn du es erreicht hast, dann musst du dir ein neues Ziel setzen. Nur so entwickelst du dich weiter und Entwicklung ist das, was Leben, was Fortschritt ausmacht.“

Ich höre auch davon, dass Zufriedenheit, Sattheit wäre, „Komfortzone“ und dass sie gleichgültig mache. Veränderung sei der Motor, das Elixier, des Lebens, Zufriedenheit bedeute letztlich Stillstand.

Wie gern würde ich mich mit dir darüber unterhalten, was du von solchen Gedanken und Aussagen hältst. Ich frage dich also, aber deine Ansichten dazu kann ich nur vermuten, denn du kannst nicht mehr antworten. Seit über zwei Jahren schon nicht mehr.

Ich ahne zwar, wie du über die Welt von heute denken würdest (obgleich ich unsagbar froh bin, dass du sie nicht mehr sehen, spüren, ertragen musst, so wie sie heute ist), über die verschiedenen Menschen und ahne auch wenigstens ein paar der Gedanken, die du mir wohl sagen würdest, zum Thema „Ziele, Entwicklung, Fortschritt, Zufriedenheit und Stillstand“.

Aber es ist nicht dasselbe, dich, deine Gedanken und Empfindungen erahnen oder sie hören und fühlen zu können. Du, kannst es nicht ändern, dass das so ist, und ich kann es auch nicht.

Ich rede dennoch immer wieder mit dir, weil ich weiß, dass ich mit dir am besten sprechen konnte. Jedes Gespräch mit dir war eine Bereicherung. Und jede Erinnerung daran ist es bis heute.

Du warst zufrieden, ohne immer mehr oder Neues zu wollen und bist dennoch nie gleichgültig gewesen. Du brauchtest nicht fortwährend Veränderung, hattest nicht immer neue Bedürfnisse und warst trotzdem nicht rückschrittlich. Deine Beständigkeit hatte nichts mit Komfort gemein, denn deine Beständigkeit bestand in hinterfragender Nachdenklichkeit im Suchen und Geben von Mitmenschlichkeit und Frieden. Und das war dir so wichtig, dass du niemals stillstandest.

*

Die Welt, wie sie ist, ist kriegerisch. Die Spitze des Eisbergs Krieg bekommen wir zu sehen, nur die Spitze, die vielen anderen, die kleineren, die „unter der Oberfläche“, die sehen wir nicht, von denen hören wir nicht, nicht von den Verwundeten, den Getöteten dort. Kein Bild, kein Wort.

Sich zu Pazifismus zu bekennen, ist verwerflich geworden, ist wert, beschimpft, beschmutzt und ausgegrenzt zu werden. Kriegstüchtig sein ist gefragt, entsprechend zu handeln, zu leben, das Gebot der Stunde.

Diese Welt ist nicht meine Welt.

Ein sehr bekannter und beliebter Kabarettist bekommt Ovationen, wenn er den UN-Generalsekretär als antisemitisch bezeichnet, weil der das israelische Kriegskabinett auffordert, palästinensische Zivilisten im Gazastreifen zu schonen. Und der Beifall schwillt wieder an, als er die Positionen von Sahra Wagenknecht als nationalsozialistisch einordnet. Gesendet und erlebbar im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, in dem längst Hintergründe und Ursachen von Ereignissen ausgeblendet, verkürzt oder ganz verschwiegen werden, wenn sie nicht zum „westlichen“ Weltbild passen, das bitteschön das einzig wahre ist. – Nur der Westen, der Westen, hat immer recht.

Auch diese Welt ist nicht meine Welt.

Ich bin auch in den Welten der großen Diskotheken, Live-Events und -konzerte, der luxuriösen Reisen, der noblen Villen, der Autorennen, des kommerziellen Sports, der Anleger, der „sozialen“ Netzwerke, des Marketings, der Wachstumsoptimierung, des Konsums ein Fremder.

Keine dieser Welten ist die meine.

Und ich habe nahezu jedes Vertrauen in jemanden oder etwas verloren.

*

Welt ist für mich, was Heimat ist. Meine Welt sind die Natur, ein paar Klänge und Melodien, ein paar Zeilen, Geschichten und Bücher, ein paar Bilder und ein paar wenige Seelen.

Mehr braucht es für mich zum Überleben nicht.

Wenn da nur nicht all die anderen Welten wären …

*

Ich möchte sein wie du, möchte dein Vermächtnis, das du nie als solches bezeichnet hättest, weil es dir so sehr selbstverständlich war, dir im mitmenschlichsten Sinn und Anliegen treu zu bleiben und du niemals arrogant darüber wurdest, weiterführen.

Aber wie tut man das, wie schaffe ich das, ohne nicht doch zu verzweifeln an der Welt, wie sie geworden ist und wie sie nicht aufhört immer mehr zu werden?

Ich frage dich das, es ist das, was mich so, so sehr umtreibt. Ich frage gerade dich, obwohl du mir auch auf diese, diese so sehr wichtige, Frage keine Antwort mehr geben wirst, geben kannst.

Und doch werde ich ganz, ganz still und lausche, spanne all meine Sinne an, um sie zu erspüren, zu fühlen: Deine Seele.

***

Als ich vor ein paar Jahren Lina Maly „entdeckt“ habe, war ich sogleich fasziniert von ihr und ihren Liedern. „Nur zu Besuch“ und „Schön genug“ habe ich damals gehört und nie vergessen. Ich hatte der Künstlerin sehr gewünscht, bekannt zu werden. – Inzwischen ist sie bekannter, aber doch wohl insgesamt nur einem speziellen Publikum wirklich vertraut, was ich sehr schade finde. Denn Linas Lieder sind nach wie vor von einer ganz eigenen besonderen Schönheit, was die Tiefe ihrer Texte, die jeweiligen Melodien und den Ausdruck der Stimme der Künstlerin betrifft. Ein aktuelles, mich sehr ansprechendes Beispiel dafür ist das Lied, das ich heute hier teile:

Lina Maly & Wim  – „Windmühlen“

Tagebuchseite -1029-

Déjà-vu 2.0

Es ist alles wie jedes Jahr um diese Zeit. Nur noch etwas verrückter und schlimmer. Und je mehr ich bei mir sein möchte, desto mehr verliere ich mich.

Wieder hat mich kein einziger Weg hin zum kleinen Weihnachtsmarkt unserer Stadt führen können, obwohl er wochenlang den Marktplatz erfüllte. Die Adventszeit hatte keine Besinnlichkeit für mich. Dabei habe ich nicht ein einziges Weihnachtsgeschenk „geshoppt“. Und es ist auch in diesem Jahr nicht zu erwarten, dass sich ein Besuch hierher verläuft, für den es irgendeiner Vorbereitung bedurft hätte.

Ich habe keinerlei Wünsche für und zu Weihnachten, außer dem einen großen, dass ich allen anderen Menschen Liebe, Frieden und Gemeinsamkeit wünsche. Für mich selbst hoffe ich ausschließlich auf ein bisschen „zur Ruhe kommen“, wenigstens für ein paar Tage. Für die gesamte Weihnachtsferienzeit kann und wird das nicht sein können. Das weiß ich schon jetzt. Denn der Januar wirft Schatten großer Berge voraus, die mir zu überwinden aufgetragen sind.

Woran es liegt, dass jene Zeit vor dem Beginn der Weihnachtsferien, für mich mit jedem Jahr zu mehr Atemlosigkeit und Erschöpfung führt, weiß ich nicht. Das heißt, ich weiß es sehr wohl, aber ich weiß nicht, weshalb das so ist.

In diesem Jahr war über viele Tage mehr als die Hälfte (!) der Kolleginnen und Kollegen gleichzeitig krank. Entsprechend viele zusätzliche Stunden und Vertretungen habe ich geleistet. Für die Kinder gab es nahezu keine Ausfallstunde, wie immer, wenn es auch noch so kritisch ist. Das ist quasi unser Alleinstellungsmerkmal, worauf wir, bitte, stolz sein dürfen. –

So war es in diesem Jahr. Im vorigen Jahr war es etwas anderes. Im nächsten wird es wieder etwas anderes sein. – Es wiederholt sich, nur auf (gefühlt) jedes Mal noch höherem, abstruserem Niveau.

Ich bin zum Roboter geworden. Ferngesteuert. Was mir die entscheidende Richtung weist, liegt nicht in mir.

Die Maschine changiert zwischen Arbeit und vollkommener Erschöpfung. Irgendein „Dazwischen“ gibt es nicht mehr. Nur in mir drinnen bin ICH noch, als menschlicher Rest, ein zusammengekauertes Wesen, das ich immer noch streichle und das mich dann verstohlen anlächelt, während Tränen in seinen sehnsuchtsvollen Blicken glitzern, unsichtbar für alle anderen. Das, was einst sein Lächeln war, seine Eloquenz, seine Freudigkeit, schicke ich als Maske nach draußen. Immer noch an jedem Tag.

Von den Kindern wird sie dankbar angenommen, von manchen Kolleginnen auch, vor allem jenen, die selbst mehr oder weniger am Limit sind. Wofür wiederum ich dankbar bin.

Als ich aber kürzlich jemanden sagen hörte, dass ich zu gut sei für diese Welt, krampfte mein zusammengekauertes ICH sich noch mehr zusammen …

So wird es, so werde ich, morgen am frühen Nachmittag über die Ziellinie des Jahres 2023 gehen.

Auch heuer werde ich nicht zurückschauen, analysieren, resümieren. Alles ist zur Genüge gefühlt worden, ich will nicht, dass es noch einmal weh tut.

Und ich werde auch wieder keine Vorsätze fassen, denn das, was zählt, das, was meiner Existenz den Rahmen setzt, geschah nie durch mich und wird auch im kommenden Jahr nicht durch mich geschehen. Ich darf womöglich wieder ein wenig zappeln, mal ein bisschen mehr nach rechts oder oben, mal ein bisschen mehr nach links oder unten, innerhalb des Rahmens. So wie eine Maschine halt ein bisschen ruckeln darf in jenem einzigen kleinen Spielraum, der anderen Menschen bestenfalls etwas Freude, etwas Liebe schenkt von meinem zusammengekauerten ICH.

Zwischen den Jahren wird vielleicht etwas Stille sein, etwas Dunkelheit, die hoffentlich ein bisschen Mantel sein mag, in den ich mich ein paar Tage lang einhüllen darf.

Am 4. Januar beginnt 2024. Dort ist die neue Startlinie markiert.

Ich möchte nicht Fatalist sein, aber ich sehe da was:  Es scheint ein Transparent mit der Aufschrift „Déjà-vu 3.0“ darüber zu schweben.

Ich weiß nicht, was da sonst auch stehen sollte …

***

Wenn es so wäre, wenn es so würde, wie „Wanda“ singt …, dann könnte ich wenigstens Hoffnung sein. –

Das Lied hier ist das aktuellste von „Wanda“ (längst kein „Geheimtipp“ österreichischer Indie-Musik mehr) und es ist vielleicht das, was mir am besten von allen gefällt. Ganz starker Text, ernst, unglaublich tief.

Wenn ich es lauter höre, beginne ich zu frieren …

Wanda – „Bei niemand anders“

Tagebuchseite -1028-

Kreislauf

Durch die klare Kälte des anbrechenden Morgens schaue ich in nicht weiter Ferne ein Panorama aus Lichtern, das sich im Wasser spiegelt. Ein Hauch ersten Sonnenrots scheint durch ein paar leise dahinziehende Schleierwolken und trifft auf das funkelnde Nass. Silhouetten von Stückgut und Schiffskörpern durchziehen das Bild, das der Hafen bietet, der in vollkommener Stille herüber leuchtet.

Nur meine Schritte sind ganz leise zu hören.

Kein Vogel, der in der frostigen Dunkelheit schon einen Laut gibt, kein Hund, der bellt, kein Kind, das schon ruft oder lacht.

Ich war allein am Wochenende, allein jetzt im Bus, die ganze Strecke, die ich zu fahren habe, lang. Und ich bin allein während dieser kaum wahrnehmbaren Schritte, die ich auf dem schmalen Weg gehe, der hinüberführt zu dem Gelände mit den zwei Gebäuden der kleinen Schule, in der ich seit ein paar Jahren meinen Dienst tue.

Was folgt, ist ein bisschen Vorbereitungsroutine, während der ich die Gefühlszeichen von Sorge und Sehnsucht, von Angst und Einsamkeit, die mich hierher begleitet haben, aus meinem Gesicht verscheuche.

Dann bin ich plötzlich nicht mehr allein und es wird sehr vielstimmig und laut. Die Kinder nehmen mich in ihren fordernden, fröhlichen, oft auch freundlichen Beschlag und gaukeln mir, ohne dass sie das auch nur entfernt erahnen könnten, ein Stück von einer Welt vor, die einen Teil meiner Wünsche erfüllt. Ein Stück ihrer Welt, von der ich weiß, dass sie so nicht bleiben wird. Aber das behalte ich für mich.

Ich öffne die Kammern meines Wissens und meiner Liebe und gebe auch an diesem Tag, was ich kann. Letztlich nur um der Kinder, ihrer Fragen, ihrer Träume, ihrer Bedürfnisse willen. In ihnen mag ich manchmal noch ein bisschen Hoffnung sehen und finden, die sonst nirgends mehr ist.

Mal gebe ich viel, mal wohl auch weniger. Nicht alle Tage sind gleich und meine Kräfte schwanken. Und es ist jeden Tag so viel, was danach schreit, geschafft, erledigt, bewältigt zu werden, zu viel.

Irgendwann am Nachmittag finde ich mich erschöpft in „meinem“ Klassenraum sitzen. Ich starre in die Leere, nachdem die Kinder nach und nach gegangen sind, lasse das Laut verebben, das vor ein paar Minuten schon aufgehört hat laut zu sein. Häufig dauert es eine ganze Weile, bis ich endlich aufstehen kann, ein noch offenstehendes Fenster schließe, eine Heizung herunterregele und endlich auch meine Sachen packe.  

Auf mein Gesicht kehren eben die Zeichen, die es am frühen Morgen trug, wieder zurück.

Ich gehe zur Bushaltestelle, in meinem Inneren zu einem Lied meiner Playlist werdend, von der nie ein Stück in einem Radiosender gespielt wird. Die Menschen, die jetzt um mich herum sind, wären gar nicht da, wenn ihre unsanften Stimmen, ihre rauen, ungefeilten Worte nicht die Hülle, die um mich herum gewachsen ist, durchdringen würden. Ich will sie nicht hören müssen, sie sind mir so fremd, dass sie mich ängstigen und dass sie mir meinen Alleinseinsstatus nur noch bewusster machen.

Schließlich gehe ich die letzten Schritte des Tages und ich spüre, wie der Hafen, der nun weit hinter mir und meinem Rücken liegt, im Dunkelgrau dieses Spätherbstabends versinkt. Die Welle, die dabei entsteht, nimmt mich mit in jenes Refugium, in dem ich Abend und Nacht verbringen werde und von dem aus ich in der Frühe wieder aufbrechen werde, wenn die Macht, die mich steuert und beherrscht, es denn noch einmal will.

***

Es trägt der Einzimmerfahrtwind dahin, wo die Sehnsucht auf Antworten trifft – ein Lied, wie einen Traum, den ich manches Mal geträumt habe.

Es wird gesungen von Jery und Karo, zwei Künstlern, über die ich nichts weiter in Erfahrung bringen konnte, als das Jery (Jeremy Grube) ein reisender Handwerker, Musiker und Globetrotter ist, der wohl mit seiner rollenden Einzimmerwohnung vor allem in Südamerika (Argentinien) unterwegs ist.

Es ist ein tolles Lied, vermutlich vor etwa zwei Jahren ist es in dieser besonders schönen, gemeinsam gesungenen Version entstanden …

Jery feat. Karo – „Einzimmerfahrtwind“

Tagebuchseite -1027-

Schulterklopfen

„Ein gutes Buch ist mir so wichtig. Wenn ich lesen kann, ist es, als wenn mir ein guter Freund auf die Schulter klopft. Die Bilder, die Schönheit der Sprache, der Geist, die alle dieses Klopfen ausmachen, sind manchmal das Einzige, was dafür sorgt, dass ich diese Welt noch verkraften kann, dass ich mich nicht vollkommen verloren fühle. Nicht lesen zu können, lässt die eigene Einsamkeit spüren.“

So oder ganz ähnlich waren Worte, die ich heute hörte. Sie waren eine der Quintessenzen eines Gesprächs, wie ich es nur sehr selten habe. Eines Gesprächs, das wie ein Glücksmoment war, geradezu skurril in der Umgebung, dem Rahmen, in dem es stattfand und sich ergab, ebenso zufällig wie zwanglos.

Es waren Worte, die ich hätte womöglich nie so aussprechen können, Worte, die aus einem Menschen sprachen, von dem ich sehr wenig weiß, den ich selten sehe, obwohl wir gerade ein paar hundert Meter Luftlinie voneinander entfernt unsere schwierigen Tagwerke verrichten und von dem es spricht, dass er womöglich nur eine Episode sein wird, da wo ich arbeite.

Die Worte, die er sagte, haben mich sehr berührt, ja, sie haben mich getroffen. Mitten in meine Seele, die sich in diesen Wochen wieder einmal mehr und intensiver denn je fragt, was gerade, oder treffender, schon wieder, mit mir geschieht.

Ich lese nicht mehr, seit Wochen. Ich kann es nicht, weil ich es nicht schaffe oder weil ich zu erschöpft bin. (Mit dem Schreiben ist es ebenso, weshalb mein Tagebuch schon so lange von keiner neuen Zeile mehr aufgesucht worden ist.)

Ich lese nicht mehr und bin also nicht mehr ich.

Ich gehöre vollkommen meiner Arbeit, und wenn sie mir hin und wieder doch einmal eine dunkle Stunde überlässt, gehöre ich meinen Gedanken, die keine guten sind. Sie sind traurig und verzweifelt. Sie grollen mich an und zeigen mir Indizien dafür auf, dass ich, die Menschen betrachtend, die mich kennen, mittlerweile wohl am wenigsten von jenen gemocht werde, denen ich einst am nächsten war. Wenn ich ein nettes Wort, ein freundliches Lächeln, ein bisschen Anerkennung erhalte, dann ist das immer anderswo.

Ich weiß, dass, wie ich lebe, nicht „normal“ ist, weiß, dass ich in vielerlei Hinsicht nicht genug bin und nicht genug sein kann. Ich weiß, dass ich keine breiten Flügel habe und dass ich sie mir obendrein, mit meiner Art zu existieren, selbst noch stutze, ohne, dass ich eine Wahl hätte, es nicht zu tun. Das ist es vor allem, was andere Menschen nicht zu verstehen zu vermögen. Jene Menschen, die mir nicht so nah sind, mir nicht so nah sein oder gar mit mir leben müssen, ficht das nicht an, die anderen aber zerbrechen offenkundig an mir.

Und ich, ich sehe, höre, spüre das und bin längst zu jenem Schrei geworden, der in mir immer wieder aufs Neue erstickt, engagiere mich für meine Arbeit, sitze Wochenende für Wochenende am Schreibtisch, umgeben von einer Wohnung, die all meine Unzulänglichkeit, Unfähigkeit, all mein nicht vorhandenes Selbstvertrauen und meine Ängste zur Schau trägt.

Wen oder was wundert es, dass ich dort immer öfter allein bin, allein esse, schlafe, Musik höre. Und wen oder was wundert es, dass ich, wenn ich nicht arbeite, auch allein Besorgungen erledige, einen Kaffee oder Tee trinke oder, was freilich nicht oft geschieht, meinem Lieblingsitaliener einen Besuch abstatte.

Für Spaziergänge bleibt kaum Zeit, und hätte ich welche, würde ich sie meist vermeiden. Mit mir allein spazieren zu gehen, endet in tiefer Traurigkeit. Es macht so besonders bewusst, wie einsam ich mich fühle, wie einsam ich bin. Macht auch besonders bewusst, dass neben der vielen Arbeit so viel an und in mir selbst begründet liegt, dass mich nicht mehr oder kaum noch lesen (und schreiben) lässt.

Da also, wo ein Anlehnen, eine Schutz vermittelnde Berührung, ein liebes Wort, schon lange fehlen, wo ich mit meiner Weltsicht stehe, die kaum jemand hören oder gar teilen mag, und mit meinen komplexen und skurrilen Fragen und meiner ganzen Mangelhaftigkeit, da, wo es nun gar mit dem Schulterklopfen aus meinen papiernen Freunden heraus, die mir immer noch so nah, aber zunehmend schwerer erreichbar sind, immer und immer weniger wird, da stehe ich nun, während die Worte aus jenem besonderen Gespräch in mir nachhallen.

Am vorigen Wochenende kam ein Buch mit der Post, eins mit einem kleinen Wunsch für mich, persönlich geschrieben und unterzeichnet von der Autorin. Kurzgeschichten stehen darin. –

Ich nehme es mit auf meine Wege zur und von der Arbeit, auf meine unruhigen, unterbrochenen und deshalb jeweils nur recht kurzen Reisen in manchmal überfüllten Bussen, in denen lauthals gesprochen, telefoniert oder Videos aus den „sozialen“ Medien geschaut werden, und die darob vollkommen ungeeignet sind, lesend, so tief wie nötig in einen Text zu versinken.

Ich nehme es mit, schlage es auf und lese gegen all den unsäglichen Trubel an.  Und weil die Geschichten so kurz sind, schaffe ich es doch, sie in mich aufzunehmen und auf mich wirken zu lassen, eine nach der anderen.

Wenn ich das Buch dann zuschlage, bin ich immer ein bisschen glücklich. Und ich bin dankbar, denn ich durfte für einen Moment ein leises Schulterklopfen spüren. Und es macht mir nichts aus, dass ich mit dieser besonderen Art des Fühlens und Spürens wohl in jedem der Busse, die ich benutze, allein bin. Denn ich sehe sonst nie einen Menschen darin in einem Buch lesen. – So sehr haben sich die Zeiten geändert.

Ich fühle mich allein, also auch in dem Augenblick, in dem mir das bewusst wird. Aber ich fühle mich nicht einsam.

Das schmale Buch mit den Kurzgeschichten, mein neuester Freund, ruht noch auf meinem Schoß.

Bis ich aussteigen muss …

***

„The Last Dinner Party „ist eine britische Indie-Rock-Band aus London, die 2021 gegründet wurde. Ihr Debütalbum „Prelude to Ecstasy“ soll im Februar 2024 erscheinen. Ihre allererste Single „Nothing Matters“ kam im April dieses Jahres heraus, nachdem die Band es, begründet durch die Corona-Pandemie, zunächst schwer hatte, sich zu finden und hinreichend proben zu können. Das Lied hat allerdings für ein Erstlingswerk einer Indie-Band eine sehr bemerkenswerte Resonanz gefunden, die Musikalität der Gruppe, die aus jungen Frauen besteht, wirkt bereits ausgesprochen professionell. Man darf auf Weiteres sehr neugierig sein. Hier ist erst einmal:

The Last Dinner Party – „Nothing Matters“

Sammelsurium -133- (Vier Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Mein heutiger Eintrag in mein Tagebuch enthält mal wieder etwas aus meinem Sammelsurium eigener Aphorismen und Schnipsel:

Jene Lächeln, die wie ein sanftes Streicheln sind, können so unsagbar schmerzhaft sein …

*

Nur die Zeit ist vollkommen unabhängig und also unsterblich. Alles Andere vergeht früher oder später, sie aber geht immer und immer weiter.

*

Wo sich Seelenverwandtschaft über die Art und Weise, wie Menschen miteinander sprechen offenbart, braucht es nicht viele Worte.

*

Ein Mensch drehte sich um 180° und sprach, dass der Berg, der sich eben noch vor ihm aufgetürmt hatte, nun hinter ihm läge. Als wenn eine Wende bedeuten würde, etwas überwunden zu haben …

* *

Schnipsel (30)

Selbstbildnis

Ein Mann, unrasiert, augenblicklich in der bequemen Weite und einzigartig seine eigene Wärme spendender, nicht gesellschaftsfähiger Kleidung wohnend –  in seiner rechten Hand ein Bleistiftstummel, mit dem er Buchstabenzeichen zu Zeilen verbindend auf ein Stück stark vergilbten Papiers schreibt, sie wieder streicht und korrigiert und neue, andere hinzufügt.

Nachdenklich schaut er auf von dem kleinen Schreibtisch voller unordentlich drapierter Skurrilität und Notwendigkeit. Hinter sich das Bild mit dem am offenen Fenster sitzenden, lesenden Mädchen wissend, das ihn für immer Verbindung zu seinem Vater besonders spüren lässt.

Es gibt nur wenig, was sonst noch zählt.

Als der Mann sich vorstellt, für das Mädchen zu schreiben, an seinen Vater, lässt die besondere Musik, die sein Tun begleitet, auf ihrem Klang eine weitere, eine schöne, Zeile auf das alte Papier fließen.

Er muss lächeln für einen Wimpernschlag:

Wenn dieses Bild, das er hier abgibt, das niemand vermuten, niemand auch nur erahnen kann, nun die wahre Metapher für künstl(er)i(s)che Intelligenz wäre …

***

Kate Peytavin ist eine 18-jährige Influencerin und Sängerin, deren musikalische Laufbahn gerade begonnen hat. Sie stammt aus New Orleans in den USA. Ihre ersten veröffentlichten Songs haben mir gut gefallen, am meisten jener, ihr neuester wohl, den ich heute hier teile. Es ist ein schönes, eingängiges, aber nicht oberflächliches Lied, was nicht nur sein Text belegt. Seit ich es zum ersten Mal gehört habe, wünsche ich mir, dass es doch ein bisschen länger sein könnte …

Kate Peytavin – „Big white light“

Tagebuchseite -1026-

Freispruch

Ich tue nichts Besonderes, ich gehe jeden Tag arbeiten. Höre und sehe, was auf der Welt geschieht. Arbeite die Wochenenden die meiste Zeit weiter, weil, das, was ich während der Woche außerhalb meines zu Hauses zu tun habe, vieler Vorbereitungen bedarf, die ich zu anderer Zeit nicht zu erledigen schaffe.

Das Arbeiten, das Hören und Sehen dessen, was auf der Welt geschieht, lässt mich sehr müde werden, sehr müde sein.

Ich denke viel, denke viel nach. Meine Gedanken sind zu schwer für andere Menschen. Es ist ganz schwierig, sie zu teilen. So schwer sind sie und die meisten überdies unpopulär. Mit solchen Gedanken allein zu sein, macht auch müde.

Was meine Stärke ist, ist meine Schwäche. Und Schwächen habe ich auch noch. Manche werden stärker, andere, neue, kommen obendrein hinzu.

Die Umlaufbahn meines Lebens ist schon immer nur in meinem Geist und meiner Seele eine große gewesen. Nicht in der Realität. Da ist dieser Orbit immer kleiner geworden, so klein, dass es sich für mich anfühlt, oft nur noch um mich selbst zu kreisen, mich und meine Erinnerungen.

Nein, weder Herbst noch Winter sind schuld daran, dass ich Weltschmerz während dieser Zeiten noch stärker spüre und noch schwerer zu kompensieren vermag als dann, wenn es draußen heller ist, dass sich mir jetzt die Spezialität meines enger werdenden Daseins stärker und unmittelbarer offenbart als während der wärmeren Zeiten  – Weltschmerz und Enge und Müdigkeit sind mir längst immer präsent, jahreszeitenunabhängig.

Ich habe zuletzt viele schöne Herbstschilderungen gelesen, Wahrnehmungen anderer empfindsamer Menschen von dieser Jahreszeit. Und diese Schilderungen haben mich daran erinnert, dass ich den Herbst auch einmal so empfunden habe und immer noch so empfinden kann. Die eigene Art Schönes oder Schlimmes zu empfinden, mag überlagert sein, verschüttet auch, aber man kann sie nicht verlernen. Ich vermag bis heute nicht verstehen, wie das gehen kann: abstumpfen.

Mein Lebenskontext lässt mich im Ablauf des realen Daseins an viele Dinge und leider auch die wenigen Menschen, die tief in meinem Herzen wohnen, nicht annähernd so oft, so unmittelbar, so nah, herankommen, wie das notwendig und schön wäre. Gelänge das, dann würden mich vermutlich auch der Herbst und sogar der Winter trösten und tragen können.

So ist es, wie es ist:

Ich stehe da, die Welt und vor allem die Menschen immer weniger verstehend, verzweifelnd und rufend. Nicht begreifend, warum die allermeisten das Wort Kompromiss zu buchstabieren verlernt oder überhaupt erlernt haben und Konfliktfähigkeit mehr und mehr ausschließlich mit Gewaltausübung übersetzt wird. Warum Dinge, die heute nicht weniger wahr sind als ehemals, heute kaum mehr ausgesprochen werden dürfen, ohne sich der Gefahr von Angriffen, Verunglimpfungen, Beleidigungen und Ausgrenzung auszusetzen.

Und ich sehe, dass mein Vermögen, Kraft und Zuversicht aus Realem zu gerieren, wegen der vielen Veränderungen desselben, aber auch wegen eigener, selbst oder fremd bedingter Entwicklungen, immer mehr geschwunden ist.

Was bleibt sind eigene Erinnerungen und die Schilderungen anderer, vor allem seelenverwandter Menschen. Für beides werde ich immer dankbarer.

Den Herbst und den Winter spreche ich hiermit endlich und ausdrücklich frei.

Es tut mir leid, dass ich das nicht schon längst geschafft und getan habe …

***

Im Mai dieses Jahres habe ich erstmals in meinem Tagebuch ein Lied der russischen Band „Svidanie“ hier geteilt.

Zwischenzeitlich habe ich immer wieder neue Aufnahmen der Gruppe gefunden und, was soll ich sagen, die meisten davon gefallen mir sehr gut. Der Stil verträumten, melodischen Indie-Pops in spezifischer, eigener Darbietung und Musikalität ist allen Liedern eigen, aber jedes für sich ist in besonderer Weise schön. –

Das Video des folgenden Liedes passt nicht so richtig in die Jahreszeiten, von denen ich oben schrieb. Aber die Botschaft einer schönen, sanften Liebe ist zeitlos. Und dieses Lied transportiert sie wie ein Juwel. Sein Text ist knapp und lautet in deutscher Übersetzung ungefähr so:

Musik der Augen
Nur für uns
Es ist ein langsamer Walzer
Es ist eine ruhige Geschichte
Nur für uns

Hier ist:

Свидание – „Музыка глаз“

Tagebuchseite -1025-

Von meinem Dilemma gelernt zu haben, dass ich mit mir selber leben möchte

Sich selbst zu finden, zu sein und zu bleiben, zu sich selbst zu stehen, sich selbst mögen zu lernen und es dann auch zu tun, das alles sei so wichtig, so gut, Grundlage für eigene Gesundheit und angemessene Selbstfürsorge. –

Ich hatte schon viele Lebensjahre hinter mir, als ich all das jeweils zum ersten Mal hörte und es vergingen etliche weitere Jahre, bis ich diese Maximen als Hinweise, als wohlgemeinte Ratschläge, ja sogar als Appelle anderer Menschen mehr oder minder direkt und wie ich heute weiß, oft um meiner selbst willen gesagt bekam.

Mich fanden diese Worte in für mich immer schwieriger werdenden Zeiten. Ich empfand sie mit der Zeit mehr und mehr als etwas Gutes. Zugleich aber blieben sie immer etwas irritierend für mich. Auch als eine längere Weile fast nichts mehr ging für mich. An dieser Verunsicherung hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert.

Jene Worte und Maximen haben mit dazu beigetragen, dass ich mir meiner heute selbst viel bewusster bin als vormals. Ich weiß, wer ich bin, ich habe mich gut kennengelernt und ich bemühe mich, mit mir, dem der ich bin, auszukommen, was mir mehr bzw. auf andere Weise gelingt als früher.

Sich seiner selbst bewusster zu sein, bedeutet freilich nicht, quasi folgerichtig, auch selbstbewusster zu werden. Dazu bräuchte es als eine weitere Voraussetzung, vielleicht die entscheidende, ein in gleicher Weise gewachsenes Selbstvertrauen, also Vertrauen in sich selbst.

Wenn ich ehrlich resümiere, habe ich festzustellen: Nein, selbstbewusster als früher bin ich nicht geworden, mein Selbstvertrauen ist nicht gewachsen. Wohl mag es ein paar Verschiebungen gegeben haben, aber an der grundsätzlichen Feststellung ändert das nichts.

Noch etwas anderes habe ich erkennen müssen. Je mehr und besser ich mich kennengelernt, selbst erfahren habe, wer ich wirklich bin, desto mehr ist in mir das Empfinden einer immer stärker werdenden Einsamkeit angewachsen. Oder anders: Das, was ich immer deutlicher als das Besondere an mir ausgemacht habe, ist offenkundig der Grund dafür, dass ich mich mittlerweile nicht nur häufig allein, ja isoliert, fühle, sondern das auch tatsächlich bin.

Heißt das, wenn ich mein Anders, mein Besonders sein, akzeptiere und annehme, so wie ich es immer wieder als starken Hinweis empfangen habe, muss ich letztlich auch akzeptieren und damit leben lernen, dass es schwer bis unmöglich für mich ist und bleiben wird, mich weniger einsam zu fühlen? Stellt sich das Problem so alternativ, sich entweder selbst anzunehmen, zu schätzen, zu respektieren, zu mögen und sich also letztlich auch zu schützen oder genau dies alles (erneut) infrage stellen zu müssen, um mehr Teil der Gesellschaft sein zu können?

Dazu, so sehe ich das, müsste ich mich allerdings, wenigstens teilweise, verleugnen, denn, so wie ich bin, bin ich offenkundig kaum bzw. nur sehr bedingt „gesellschaftsfähig“.

Meine größte, durchaus schwer vollzogene, aber schließlich mit viel innerem Engagement und mit der Hoffnung ruhiger, angstfreier und auch zufriedener leben zu können, vollzogene Veränderung meiner selbst ist gerade die gewesen, mir meiner selbst bewusst zu werden und mich anzunehmen, so wie ich bin.

Nun bin ich so wie ich bin, und so schwer es oft mit mir ist, so möchte ich doch kein anderer (mehr) sein. Vor allem kein Mensch im Namen eines oder mehrerer anderer Menschen, auch nicht „indirekt“ oder auch nur so, dass es für Dritte den Anschein erwecken könnte. Selbst dieser Preis ist mir zu hoch.

Ist es arrogant, wenn ich so denke? Ist es die gerechte Folge dieser Arroganz, dass ich mehr und mehr in Isolation geraten bin?

Ich höre schon die Stimmen, die nun sagen: „Dann musst du eben etwas ändern, dich ändern! Wenn nahezu alles nicht (mehr) zu dir passt, dich nicht so annehmen kann oder will, wie du bist, und dich das unzufrieden oder gar unglücklich macht und bleiben lässt, dann musst du dich verändern. Einen anderen Weg gibt es nicht!“

Ich soll, ich muss, also mich ändern, den, den ich in so mühevoller Arbeit an und mit mir selbst gerade anzunehmen und zu mögen gelernt habe?

Für mich ist das ein Widerspruch in sich selbst, ein nicht aufzulösender. Das macht mich gerade ziemlich traurig und es mir noch schwerer, zu mir zu stehen und für mich einzustehen, mich weiterhin zu mögen.

*

Das ist das (vorläufige) Ende meiner Gedanken zu diesem Thema, welches ich aber doch noch einmal etwas praktisch exemplifizieren möchte, indem ich kurz notiere, eine Art Schlaglicht meiner Existenz „unter anderen Menschen“:

Zunächst mag man mich mehr oder weniger. Ich gelte als freundlich, als verlässlich und empathisch, als eloquent, hilfsbereit und vertrauenswürdig.

Je mehr man über mich erfährt, meine Art zu hinterfragen, kritisch zu ein, meine Eigenheiten, meine unumstößlichen Wertvorstellungen und Werte, die ich zu leben versuche, meine wirklichen und vermeintlichen Makel, mein eigentlich introvertiertes, von Demut und nicht nur postulierter Bescheidenheit gekennzeichnetes Wesen, meine Ängste und mein tatsächliches Interessenspektrum, desto stärker spüre ich Irritation, ein Zurückweichen, ein bewusstes Bemühen um Distanzerhaltung, ein Ignorieren und manchmal gar Abkehr.

Zusammengefasst und (vielleicht) etwas zugespitzt: Man kann mit mir auskommen (dafür gibt es aber immer eine Grenze), aber man kann nicht mit mir leben.

Ich aber muss mit mir leben. Mir wurde gelehrt, das lernen zu sollen und zu müssen. Und nun will ich mit mir leben. Ich wünschte mir nur, dass ich dabei und damit nicht so allein wäre.

***

Im Jahr 2020 hat sie als erste Schweizerin den Wettbewerb  „The Voice Of Germany“, zu dem ihr Vater sie angemeldet hatte, gewonnen. Seither war es vollkommen ruhig geworden um sie …

Jetzt ist Paula Della Corte, die im Jahr 2001 geboren wurde und im Schweizer Kanton Thurgau aufwuchs, wieder da. Und wie! Mit ihrer ersten eigenen, und wie ich finde, musikalisch, wie stimmlich besonderen und außerordentlich bemerkenswerten Single. Ich hatte jedenfalls sofort einen Ohrwurm und bin sehr gespannt auf den weiteren Weg der jungen Künstlerin:

Paula Della Corte – „Good Girl Killer“

Tagebuchseite -1024-

Lebenserfahrungen: Liebe

Wer und was zu mir kommen möchte, kommt von allein, kommt freiwillig. Und ebenso geht er, sie oder es auch. Das gilt auch und vor allem für die Liebe.

Es macht keinen Sinn, nach Liebe zu suchen, schon gar nicht, wenn die Sehnsucht am größten ist. Die Gefahr enttäuscht zu werden, in Resignation zu verfallen gar, ist dann am größten.

Liebe lässt sich nicht durch Suche finden und sie lässt sich auch nicht festhalten. Sie ist der Inbegriff von Freiheit und lässt sich also weder einfangen noch gefangen halten. Ich habe keinerlei Einfluss darauf, ob sie den nach meinem Ermessen schönsten Platz in meinem Herzen annehmen mag oder nicht.

Meine Vorstellung von Liebe ist subjektiv und sie ist in großen Teilen ein Wunsch, eine Illusion und sie wird das grundsätzlich auch bleiben.

Weil das so ist, ist auch das Leben überwiegend Illusion. Wenn wir wünschen, wenn wir träumen, sind wir nicht in der Gegenwart, aber genau dort findet unser Leben tatsächlich statt, dort und nur dort ist das, was real, was Realität ist.

In der Realität sein aber, bedeutet für viele Menschen viel mehr Existenz als Leben. Und selbst diese Existenz ist häufig außerdem noch eine bedrohte, in dieser oder jener Weise.

Realität und Liebe sind einander immer fremder geworden. Die Realität ist fordernd, rau, laut, sie schreit nach mehr Tempo, mehr Einsatz, sie gebietet, Ellenbogen einzusetzen und durchzuhalten, erlaubt fast alle Mittel zum Zweck. Liebe hingegen ist Rücksicht, ist sanft, spricht, sodass du zuhören kannst, sie mag die Ruhe und ist nicht fordernd, sie gibt, was du erlaubst, was du als schön empfindest, dafür mag sie sogar zurückhaltend sein.

Die Realität macht, dass Menschen die Liebe mehr und mehr verlernen, verlernen, was Liebe ist. Dass sie nicht Sex ist und auch nicht an Sex gebunden, dass die eigentliche Liebe nicht körperlich definiert und determiniert ist, dass sie vielmehr die Kultur urmenschlichen, von Respekt und Empathie geprägten Umgangs miteinander ausmacht. Sie ist als solche viel größer, viel freier, als an Mann und Frau oder bestimmte Alterskonventionen gebunden zu sein.

In der Realität unserer Existenzen, unseres Existierens, ist derartige Liebe immer weniger zu finden. Da wo sie ist, wird sie meist nicht verstanden, belächelt, verunglimpft oder gar verurteilt.

So wird, sie wirklich zu leben, zum doppelten Risiko. Dem des Zurückbleibens in der „Dynamik“ der Realität und somit in dem, was Gesellschaft heute bestimmt, ist und ausmacht und dem des verletzt Werdens und Bleibens.

Wer angesichts dessen dennoch liebt, Liebe zu geben versucht, ist in meinen Augen (innerlich) schön, weil er/sie sich das bewahrt hat, was urmenschlich ist.

Wer und was zu mir kommen möchte, kommt von allein, kommt freiwillig. Und ebenso geht er, sie oder es auch. Das gilt auch und vor allem für die Liebe.

Das soll, das muss so bleiben, so schwer das auch auszuhalten ist.

***

Haley Bonar (eigentlich Haley McCallum) ist eine 1983 in Kanada geborene amerikanische Sängerin und Songschreiberin, die mehrere Musikinstrumente beherrscht. So spielt sie mehrere Gitarrenarten sowie E-Piano. Mit 20 Jahren veröffentlichte sie erstes Album, weitere acht sind in der Folge erschienen, das bislang letzte „Munca“ in diesem Jahr. Das melodisch und textlich sehr schöne Lied „Hometown“, das ich heute hier teile, stammt von ihrem im Jahr 2016 veröffentlichten Album „Impossible Dream“. Es ist ein Stück angenehm zu hörender, sanfter, melodischer, aber durchaus anspruchsvoller Indie-Pop:

Haley Bonar – „Hometown“

Verse -102-

Ein Herbstwunsch

Ich hör', es wird leise. Ich hör', es wird still.
Das Summen und Flirren ebbt langsam ab,
weil es der Jahreslauf so will.
Blätter und Tau fall'n auf die Erde herab.

Nebel steigt aus den Wiesen auf.
Ein Jeder sucht nun eine Bleibe.
Und ich mach' mein Seelenfenster auf,
während ich Verse schreibe.

Schick' meine Gedanken über das Land
und lasse sie niederregnen.
Grad wenn es so still ist, wünsche ich mir,
dass sie anderen Menschen begegnen.

Dass sie sich fänden einander im Grau,
im Suchen und Fühlen erspürten
ein letztes Stückchen Himmelsblau
und es mit sich dann entführten.

So gäb' es Licht in des Herbstes Vergehen
für solche, die tief empfinden -
ein wenig Heimat, ein bisschen Verstehen
in diesen kalten und stürmischen Winden.

***

Es ist inzwischen fast drei Jahre her, seitdem ich erstmals ein Lied der belgischen Sängerin, Musikerin und Songschreiberin Geike Arnaert hier geteilt habe. Nun habe ich wieder ein Lied von ihr entdeckt, wieder ist es schon ein paar Jahre alt. Aber es ist eine so schöne Ballade, untermalt von einer feinen Melodie und der auf so zauberhafte Weise eindringlichen, aber nie lauten Stimme von Geike untermalt und es vermittelt eine Stimmung, die der meinen in diesen Tagen sehr, sehr ähnlich ist. – Geike Arnaert hätte viel mehr Aufmerksamkeit verdient …

Geike Arnaert – „All over“

Tagebuchseite -1023-

Vom Wert ein paar guter Erinnerungen und dem, was Menschenseelen wirklich brechen lässt

„Deine Gedanken brechen dir dein Herz“ – so habe ich es soeben in einem Reel gelesen und sinniere nun darüber, wie viel Wahrheit dieser Satz auf mich bezogen wohl enthält. Immerhin sind meine Gedanken grundsätzlich tiefe. Oberflächlich zu denken und meine Natur, mein Charakter, sind Antagonismen.

Ich habe es in all meinen Lebensjahren nie vermocht, an der Oberfläche zu bleiben, obschon ich mir das manchmal gewünscht habe, ahnend, dass das Vermögen, eine Situation, eine Etappe, Lebensabschnitte leichter nehmen zu können, ein Herzbrechen wenigstens weniger schwer sein lassen würden

Aber etwas an und in dem Satz da oben lässt mich aufbegehren. Wenn es wirklich meine eigenen Gedanken sind, die mein Herz, meine Seele brechen lassen, dann bedeutet das nichts weniger, als dass ich selbst mein Herz und meine Seele zerstöre, denn meine Gedanken sind mir immanent, spiegeln mich, meine Persönlichkeit, sind ICH.

Allerdings ist das, was sie entstehen lässt, keineswegs nur in mir verortet oder begründet, sondern in weit stärkerem Maße in meiner Umwelt, dem und jenen, das und die mich umgeben, das und die meine Realität ausmachen, das, was jeden Tag Gegenwart wird und ist, Realität.

Brechen mir also wirklich meine eigenen Gedanken das Herz oder ist es doch vielmehr die mich umgebende Realität?

Kürzlich erst habe ich geschrieben, dass ich es nicht mehr aushalte im Hier und Jetzt zu leben. Den ich in der Gegenwart existieren lasse, ist ein maskierter Teil meiner selbst. Ich habe früher nie eine Maske tragen wollen und ich verabscheue es auch heute noch. Aber ich tue es nunmehr dennoch. Nur so kann ich mich wenigstens ein bisschen schützen und doch vor allem den Kindern, die mir anvertraut sind, von meinem Wissen, von meiner Erfahrung, und von meinem Herzen geben.

Den, der ich eigentlich bin, kennt kaum noch jemand. Viele derer, die mich einmal kannten, haben sich längst abgewandt, sind auf Distanz oder ganz gegangen. Es gab Zeiten, wo ich das beklagt habe. Nunmehr strenge ich mich an, mich damit abzufinden. Damit es nicht fortgesetzt so weh tut.

Auch Erinnerung kann Gegenwart sein. Eine andere Welt im Hier und Jetzt, in der aktuellen zeitlichen Dimension und zugleich doch gar nicht existent in ihr, sondern in der eigenen verbleibend. Ein Paralleluniversum. Menschen, die die Gegenwart, die Realität des Hier und Jetzt nicht mehr aushalten, auch solche, die älter werden, fliehen und leben in solche/n Universen. Wenn es denn wenigstens ein paar schöne Erinnerungen gibt, kann das ihr Überleben sein.

Ganz anders, als wenn sie dem Rat „im Hier und Jetzt zu leben“ folgten. Menschen, die diesen „Rat“ geben, können meist nicht ermessen, was sie damit im Zweifel anzurichten imstande sind. Sie nennen jenen Raum, jenes Universum, in dem sensible, von Ängsten verfolgte, depressive, einsame Menschen, Zuflucht suchen, gar „Komfortzone“ und werden nicht müde, mehrheitlich immer unnachgiebiger werdend, deren Verlassen zu fordern. „Du musst es nur wollen!“, so sprechen sie und: „Du wirst sehen, wenn der erste Schritt erst getan ist, wird bald alles besser.“

Woher nehmen diese Menschen die Sicherheit (oder Unverfrorenheit?), das wissen, das beurteilen zu können oder gar zu postulieren, dass ihre Gewissheit allgemeingültig sei. So viele, die sich „Coaches“ nennen, „wissen“, wie es geht, was jemand und somit jeder tun muss, damit alles, damit er oder sie den richtigen Gang gehen. Jenen Gang in schwarz und weiß, den unsere Realität, unsere Gegenwart einfordert und ausmacht. Den Gang an dem mein Herz, meine Seele zerbricht, seit langer Zeit schon und mit jedem Jahr mehr …

Die Bahn der Sonne, die ich sehen kann, wird in diesen Tagen wieder kürzer und kürzer. Die Zeit, die mir grundsätzlich die schwerste ist im Jahreslauf, wird damit eingeläutet. Ich wehre mich dagegen, daran zu glauben, dass es wieder so wird, auch, weil der diesjährige Sommer schon so ein schwerer war.

Stattdessen versuche ich mir vorzustellen, dass die Sonne ja auch dann leuchtet, wenn ich sie nicht sehe. Und dass sie also immer sieht und Zeuge ist von allem, was ist und geschieht, was ich wie wahrnehme und was mich umtreibt. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte wahrhaftig glauben, darauf vertrauen, WISSEN, dass die Sonne etwas ist, oder etwas hinter ihr, jene freundliche Macht, die gefunden hat, was Liebe ist und welche die Hoffnung hatte, die Menschen könnten die Liebe annehmen und mehren.

Aber ich vermag nicht so zu glauben und ich sehe jene Hoffnung einsam werden, immer einsamer, mit jedem Tag.

Dennoch nichts beklagen, vor allem nicht sich selbst –  in und mit Erinnerungen überleben – noch vom eigenen Herzen geben, das hat ebenso wenig mit Komfortzonendasein zu tun, wie es die eigenen Gedanken sind, die das Herz oder die Seele eines Menschen brechen lassen.

***

„Tränen“ ist ein Songprojekt, das aus der Sängerin und Songschreiberin Gwen Dolyn und Steffen Israel“, dem Gitarristen der Band „Kraftclub“, besteht. Ihre erste gemeinsame Single verkörpert eine Sparte deutschsprachigen Indie-Pops, die sogenannte „Neue neue deutsche Welle“. In „Stures dummes Herz“ geht es um Zerrissenheit, Gefühlschaos und die Frage, ob alles vielleicht doch nur eine kurze Liebesgeschichte ist. Es ist ein in besonderer Weise hörenswertes Lied, das auf das für den 3. November dieses Jahres angekündigte erste Album von „Tränen“ mit dem Titel „Haare eines Hundes“ ebenso neugierig macht, wie auf die für 2024 geplante große Tour der beiden Musiker.

Tränen – „Stures dummes Herz“