Wegweiser durch diesen Blog

Tagebuchseiten:

Hier sind meine Reflexionen über Ereignisse und Begegnungen im Alltag ebenso zu finden, wie meine Gedanken über „Gott und die Welt“ – in loser Folge, ohne Ordnung …

(Mit Beginn des Jahres 2017 erscheinen einige meiner Tagebuchseiten als Selbstgespräche . Grund dafür ist eine umfassendere Idee, die ich schon lange in mir trage. Vielleicht entsteht aus den entsprechenden Texten irgendwann ein Weg, der zu ihrer Realisierung durch mich führt. Vielleicht …)

Sentenzen:

Nachdenkliches zu Themen, die mich immer wieder und nachhaltiger bewegen und beschäftigen, die in meinem und für mein Leben zumeist eine wichtigere Rolle spielen.

Verse:

Einige meiner Versuche, Gedanken, Eindrücke, Reflexionen und Ansichten in lyrischer Form zu verarbeiten.

Gedanken zu Aphorismen:

Was immer ich auch lese, ich spüre darin aus meiner Sicht interessante Sinnsprüche auf. Einige von denen, die mich besonders inspirieren, zum Nachdenken anregen, meinen Widerspruch herausfordern, bespreche, diskutiere ich hier.

Zwischenstopps:

Texte oder Begebenheiten über die ich „gestolpert“ bin, darunter Merkwürdiges, Skurriles, Witziges, Unglaubliches – manchmal mit kurzen Kommentaren von mir versehen. (mitunter auch Musiken, mit denen ich mir einen Zwischenstopp genehmige …)

Sammelsurium:

Hier finden sich von mir verfasste, kleine Rezensionen zu Büchern, die ich gelesen habe, eigene Gedanken in Aphorismenform, die ich zur Diskussion stelle, und Sonstiges, was mir mitteilenswert erscheint.

Tagebuchseite -1009-

Vom wahrhaftigsten Lächeln der Liebe

Viele Kinder tragen ein ganz besonderes Lächeln im Herzen. Und einige verstehen es, davon etwas zu verschenken und manchmal scheint es so, als täten sie das gar nicht so wirklich bewusst, sondern „einfach so“ aus ihrer Mentalität, ihrem Charakter heraus. Das ist etwas unglaublich Schönes und ich habe immer wieder einmal das große Glück, so ein Geschenk zu erhalten.

Dabei kann es sich um freundliche Worte, eine in Hoffnung auf Vertrauen gestellte Frage oder Bitte, ein Lächeln im ureigensten Sinn, eine kleine Berührung, eine witzige Bemerkung, ein Dankeschön oder gar alles zusammen handeln.

Wenn ich ganz ehrlich bin, dann muss ich bekennen, dass diese Geschenke, mich ganz, ganz wesentlich leben, weiterleben, überleben lassen. Sie sind der Schönheit der Natur, der Größe und Wichtigkeit meiner wenigen wirklichen Freundschaften, der Erdung, die mir Literatur, Musik und andere Kunst zu vermitteln vermögen, ganz und gar ebenbürtig.

In den langen Phasen der Depression und der Ängste, die vor allem jene Zeiten, die Alltag sind, für mich ausmachen und begleiten, kann mich die bloße Erinnerung daran, zum innerlichen Erbeben bringen. Die Freude darüber kann so schwer wiegen, dass ich mir dann mitunter das Aufsteigen von Tränen verbeißen muss.

Mir scheint es manchmal, dass etliche der „kleinen Menschen“ ein viel weitergehendes und sensibleres Gespür als so viele jener erwachsenen Zeitgenossen, die mich im Alltag umgeben, haben.

Kinder können auch unausgeglichen, laut, grenzüberschreitend, frech sein, so, dass es auch meine Nerven arg strapaziert. Aber kein Kind ist toxisch. Kein Kind ist heuchlerisch. So zu sein, ist und bleibt Erwachsenen vorbehalten, vor allem solchen, die stets und ständig von Ansprüchen auf Positionen, Hierarchien und materielles Fortkommen gesteuert und geleitet sind.

Meine letzten Arbeitswochen waren sehr hart. Sehr hart für mich, vielleicht vor allem meinen eigenen Unzulänglichkeiten geschuldet. Ich vermag das nicht objektiv zu beurteilen, sehe nur, dass es immer wieder und zahlreicher und länger andauernde harte Zeiten gibt. Manchmal glaube ich, dass das darin begründet liegt, dass ich in zurückliegenden Wochen, Monaten und Jahren, ohne anders zu können, zu viel meiner Energie, meines „Pulvers“ verbraucht und „verschossen“ habe, ohne dass Nennenswertes für mich selbst übrig geblieben ist.

Warum ich nie anders konnte und bis heute nicht anders kann, wird mir immer unerschlossen bleiben.

In der vergangenen Woche war ich mit zwei Kolleginnen, meiner 5. und einer 6. Klasse auf Klassenfahrt. Viereinhalb Tage lang, eine ganze Schulwoche also. Nicht der Alltag, wie er sonst ist, und auf andere Weise fordernd, beanspruchend, bis auf die (nicht allzu langen) Schlafenszeiten der Nacht, in beständiger hoher Aufmerksamkeit und während der Ruhezeiten immer noch mit einem halboffenen Auge …

Aber eben auch eine Zeit mit besonders vielen freundlichen Worten, in Hoffnung auf Vertrauen gestellten Fragen oder Bitten, einigen Lächeln im ureigensten Sinn, mancher kleinen Berührung oder witzigen Bemerkung und vieler Dankeschöns, geboren aus jenem besonderen Lächeln, das viele Kinder in ihren Herzen tragen und das so sehr Liebe ist, wie man sie nicht suchen, sondern nur finden kann.

Wenn sie, diese Art des Lächelns, diese Art der Liebe, die Welt zu erobern imstande wäre, wie unglaublich schön es dann sein könnte.

Ich bin zutiefst dankbar, dass ich davon geschenkt bekommen habe und immer wieder einmal geschenkt bekomme.

***

Alex Cameron ist ein 1988 in Australien geborener Sänger und Songschreiber. Seit 2020 ist er mit der britisch-amerikanischen Schauspielerin und Regisseurin Jemima Jo M Kirk verheiratet.

Bekanntheit hat er vor allem durch seine solistische Arbeit erlangt, die 2013 mit der Veröffentlichung eines ersten Studioalbums begann. Drei weitere folgten, sein aktuellstes im Jahr 2022. Aus diesem Album stammt die Auskopplung, die ich heute teilen möchte. Sie kommt als leichter, melodischer Indie-Pop daher, der alle bisher von mir gehörten Lieder von Alex Cameron charakterisiert, ebenso wie ein durchaus anspruchsvoller Text:

Alex Cameron – „Sara Jo“

Sammelsurium -130- (Drei Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Das heutige „Sammelsurium“ startet mal wieder mit ein paar „sinnigen Gedanken“ aus eigener Feder:

Je mehr ausschließlich Wissen Fundament von Weisheit ist, desto unvollkommener ist sie. Wirklich weise ist derjenige, der zuzuhören versteht, der differenziert und hinterfragt, respektvoll ist und vor allem nicht vorschnell Urteile fällt. Derartige Weisheit ist übrigens an kein Lebensalter gebunden.

*

Niemandem gehört sein Leben allein.

*

Das Leben findet nicht dort statt, wo Politik gemacht wird. Solange das so ist und bleibt, wird sie mehr oder weniger weltfremd bleiben.

**

Schnipsel (27)

Von einem wirklichen Frost

Wortfetzen und Reime, manchmal eine ganze Strophe, gleiten fort, aus mir heraus, landen auf Straßen und Wegen ohne Menschen und werden dort dennoch zertreten. Ich kann sie nicht halten, nicht bewahren. Sie wollen ja raus, aber sie sind und bleiben immer unfertig, seit Wochen schon, wenn sie fliehen und schließlich verloren gehen.

Ich schaffe es nicht, sie zu halten. Und ich finde sie nicht wieder.

So können keine Verse werden und keine Gedichte. Und deshalb werden auch, seit Wochen schon, keine mehr.

Die Poesie vergeht, wo kein Leben mehr ist, wo die Monotonie und Strapaze des Täglichen das Kommando übernommen haben, zu seiner Aura werden.

Wer in so einer Aura existiert, ist nicht mehr frei. Wer nicht frei ist, kann nicht wirklich schreiben, am wenigsten Lyrik.

An die Stelle des frei Seins tritt eine immer größer werdende Gefangenschaft. Gefangenschaft in Pflichten, in Zwängen, in Strukturen, in Kontexten anderer Menschen und in sich selbst. Wenn außerdem keine Saite einer schönen Berührung mehr schwingt, ist das die Geburtsstunde eines Mörtels, der die Mauern des Gefängnisses noch höher und noch stärker werden lässt

Wer dahinter noch Reime oder Strophen zwitschern könnte, würde von niemandem mehr gehört. Womöglich wissen sie das, sie, die Lyrik werden könnten, und gleiten deshalb fort, lassen sich zertreten und wehren sich nicht dagegen, verloren zu gehen.

Und ich bleibe zurück.

Und friere, obwohl es Frühling werden möchte.

Immer mehr!

***

Die deutsche Sängerin und Songschreiberin Alex Mayr hatte ich Anfang des vorigen Jahres hier erstmalig vorgestellt. Inzwischen habe ich manches sehr hörenswerte Lied von ihr entdeckt, kürzlich, jenes, das ich hier heute teilen möchte. Es stammt von ihrem Debütalbum und besticht neben einer eingängigen, aber niemals kitschigen Melodie, wie fast alle ihre Lieder durch einen besonderen, zugleich nachdenklich machenden und inspirierenden Text. Und dann ist da auch noch die Stimme der Sängerin …

Alex Mayr – „Ein Pilot“

Tagebuchseite -1008-

Erstickter Schrei

Je älter ich an Jahren werde, umso besser glaube ich die Welt, die Menschen, die in ihr leben, zu erkennen. Desto weniger aber, und ich denke, dass das nicht nur ein Eindruck ist, verstehe ich sie jedoch, die Welt und vor allem die Menschen in ihr. Die meisten Entwicklungen, Trends, Tendenzen, Pläne und Visionen lassen mich ratlos zurück und in den meisten und immer zahlreicher werdenden sozialen Kontexten und Milieus, finde ich keinen Platz (mehr) für mich.

Immer häufiger bin ich damit beschäftigt, in die Vergangenheit zu blicken, um die Gründe für meine Unfähigkeit, immer weniger verstehen zu können und ebenso dafür, dass ich mich in immer mehr Wirkungs- und Lebenskreisen anderer Menschen nicht mehr zurechtfinde, die Art ihrer Kommunikation nicht mehr begreifen und nachvollziehen kann, sie mir fremd und fremder werden.

Immerhin zeigt sich mir die Vergangenheit, so weit wie ich sie bewusst durchlebt habe, in klaren, Bildern. Jede meiner Rekapitulationen bleibt stets eine subjektive, und das wird auch immer so sein. Aber ich kann mir inzwischen nahezu alle Fragen beantworten, auf die ich ehedem keine Antworten zu finden vermochte. Und selbst wenn das Endergebnis, geronnen aus der Summe dieser Antworten, für mich ein schwierig auszuhaltendes ist, so ist es doch tröstlich für mich, wenigstens zu wissen, warum mein Status quo der ist, der er ist.

Schaue ich hingegen nach vorn, in Richtung Zukunft, kann ich nichts mehr sehen. Da ist nurmehr nur noch Nebel, ein ehernes, furchterregendes Grau, so als wäre ich erblindet, während ich die Blickrichtung wechselte. Und ein wenig gruselig ist es wohl, dass ich gar nicht so selten ein Froh sein darüber empfinde, dass das so ist. Das, was so viele der aktuellen und anberaumten Entwicklungen, Tendenzen und Visionen erahnen lassen, bereitet mir Sorge, macht mir Angst, ist Grund, dass Ohnmachtsgefühle in mir manchmal allmächtig werden.

Und dann ist da noch etwas: Ich spüre, dass ich vieles von dem, was ich dennoch zu aktuellen und vorgesehenen Geschehnissen und Entwicklungen denke und vielleicht zu sagen hätte, nicht mehr sagen kann, nicht mehr sagen darf. Ein solches Empfinden hatte ich letztmalig während der Endzeit der DDR.

Ich habe mich noch nie so falsch, so fehl am Platz, so unverstanden, so eingeschränkt und so heimatlos gefühlt, in dem Land und unter den Menschen, in dem bzw. mit denen ich lebe. Ich gehöre nicht hierher.

Meine mit Blick auf die Zukunft bestehende Wahrnehmungsunfähig- und -unwilligkeit, mein Fremdkörperdasein, lassen mir freilich in einer Hinsicht keine ruhige Minute. Denn da sind mein Sohn, da sind die Kinder, die mir täglich anvertraut sind, da ist aktuell gerade ganz besonders eine meiner ehemaligen Schülerinnen, ein 13-jähriges Mädchen, das unbewusst alles nur Erdenkliche tut, Zuversichtstupfer in mein ehernes Zukunftsgrau zu senden.

Wenn mein Dilemma, durch einen alles durchdringenden Verzweiflungsschrei, wenigstens ein bisschen geringer würde, ich würde zum ersten Mal in meinem Leben schreien, wie ich noch nie geschrien habe. Da ich natürlich weiß, dass mich auch der intensivste und am längsten andauernde Schrei, nicht befreien würde, versuche ich meinem Sohn, den mir anvertrauen Kindern und jenem Mädchen so viel als möglich von dem zu geben, was in mir allem Ungemach zum Trotz immer noch nicht erloschen ist: Liebe.

Liebe, die Vertrauen ist und sich um Empathie bemüht, die Fragen und Sorgen ernst nimmt, die Respekt und Achtung bekundet und Dankbarkeit zeigt, die nicht urteilt oder gar vorurteilt und die, so schwer das ist, so schizophren das zu sein scheint, zu ermutigen versucht. Liebe aber auch, die weder meinen Sohn, noch die Kinder mit Hoffnungen oder gar Erwartungen behelligt. Allzu schnell und allzu sicher würde sie sonst zu Überforderung führen können, von der der Schritt zum verzweifelt Sein nur ein kleiner ist. Das möchte, das muss ich unbedingt verhindern.

Stattdessen erzähle ich meinem Sohn und den Kindern von meinen Wünschen, für sie ganz persönlich und von meinem einen ganz großen Wunsch. Dem, von dem ich weiß, dass er sich für mich nicht und nie mehr erfüllen wird.

Aber das sage ich den Kindern natürlich nicht und auch nicht meinem Sohn.

***

Von der besonderen Sharon van Etten habe ich hier vor längerer Zeit schon Lieder geteilt. Gerade ist ein neues stimmliches, melodisches und textliches Meisterwerk von ihr erschienen. Vorerst habe ich nur ein Lyrikvideo finden können. Aber allein das Hören verschafft einen faszinierenden Eindruck:

Sharon van Etten – „When Idie“

Tagebuchseite -1007-

Abende und Tage

Der Tag hat mich entlassen. Endlich!

Eine kurze Melodie hüllt mich ein. Sie ist so schön, dass ich mir wünsche, ihre Noten wären zu einer Decke verwoben, unter die ich mich legen könnte und die mich wärmen würde.

Sie wärmt mich auch so ein bisschen.

Wenn das geschieht, hat der Abend ein paar schöne Minuten.

Oft ist oder wird mir auch am Abend kalt. So wie vor ein paar Tagen, als ich einen Film schaute. Der Tag, der mich entließ, hatte mir etwas mitgegeben, das er nicht behalten wollte: Erschöpfung und Müdigkeit. Beide ließen mich frieren, je länger sie mich begleiteten. Ich legte eine Wolldecke über mich und kämpfte darum, meine Augen offenzuhalten.

Wenn ich mich so fühle wie an diesem Abend, dann macht eine Decke, dass ich mich unter ihr wie in einer kleinen Wohnung fühle. Ich wohne in einem Kokon, in dem es friedlich wird und ich werde ganz klein darin. So klein wie das Kind in mir. Und ich fühle mich wenigstens ein bisschen so wie früher, als ich noch umarmt wurde. 

Im Frühling, im Sommer werde ich an Abenden immer weniger eine Decke benötigen. Und obwohl ich diese Jahreszeiten auch im aktuellen Zeitenlauf sehr herbeisehne, mache ich mir zum ersten Mal in meinem Leben Gedanken darüber, ob die wärmender werdende Sonne imstande sein wird, mir das Empfinden einer Umarmung zu vermitteln, so wie es die Decke an jenen dunklen Abenden vermag, denen die langen Nächte des Jahres folgen.

Ja, so groß ist die Sehnsucht mittlerweile.

Der nächste Tag ruft nach mir. Ich möchte versuchen, bei mir zu bleiben, auch wenn der Kokon nicht mehr da ist. Halte deshalb im Bus die Augen gesenkt oder schaue ein wenig durchs Fenster nach draußen, damit mich kein Blick der mitfahrenden Menschen trifft. 

Ich schaue erst wieder auf, wenn die Kinder kommen. Ihre Blicke dürfen mich treffen. Sie sind offen, werden nicht von einem Vorurteil gesteuert. Ihr Lächeln ist echt, immer aus dem Moment geboren. Ein bisschen trägt es mich durch die Pflichten, denen ich zu gehorchen habe, wenn es Tag ist. Und es restauriert die Fassade, die fortlaufend im Begriff ist zu bröckeln und der Öffentlichkeit mein wahres Antlitz zu offenbaren. Das zu verhindern, kostet mich ein gutes Teil der Energie, die mir pro Tag verlieben ist.

So zieht die Zeit an mir vorüber. Sie hat aufgehört mich mitzunehmen, seitdem sie bemerkt hat, dass ich ihr weder folgen mag noch folgen kann, dass ich es auch gar nicht mehr will. Sie lässt mich in Ruhe und ich bin ihr von Herzen dankbar dafür.  Ich werde zeitlos, lange bevor die Erinnerungen an mich aufhören werden. Letztlich wird alles vergessen, irgendwann. 

So wird es Abend und Tag und wieder Abend. Jetzt, wo ich noch da bin und dann, wenn ich nicht mehr sein werde. Und schließlich auch, wenn gar nichts mehr ist.

Mein Leben ist, wie jedes Leben, eine Episode, jede Sehnsucht darin nicht mehr als ein Wimpernschlag.

Es macht gar keinen Sinn mehr, dass sie irgendwer bemerkt.

Das ist es, was ich endlich begreifen muss.  

***

Die Melodie, von der ich oben schrieb, ist genau die, die ich jetzt hier teile. Ersonnen wurde sie von David Reichelt (geboren 1986), einem Komponisten aus München, der vor allem Musik für Fernseh- und Kinofilme sowie Werbespots schreibt. 2015 ist freilich auch eine Oper als eine seiner Kompositionen entstanden. Die noch weithin unbekannte 27-jährige Sängerin Sophia Antonia (erste andere Stücke hat sie bereits als „Sophie“ gesungen), die hauptberuflich Goldschmiedin ist, hat jener Melodie ihre wundervolle Stimme geliehen und sie so ohne Zweifel vervollkommnet. Das Lied gehört zur Filmmusik der aktuell in der ARD laufenden Serie „Tage, die es nicht gab“  (so am Ende der 4. Folge zu hören) …

Sophia Antonia – „The Past“

Tagebuchseite -1006-

Von der Zeit, die keine mehr ist

Meine Halbwertzeit beträgt genau eine Woche. Mehr an Zeit braucht es nicht mehr, um meinen inneren Akku gefühlt um 50 % schwächer werden zu lassen. Und so lässt sich recht eindeutig vorhersagen, wann der nächste Zustand vollkommener Erschöpfung den Zielstrich markiert, den ich unbedingt wieder erreichen muss. So wie beim letzten Mal und die inzwischen vielen Male zuvor.

Nichts wird mehr besser, aber es wird immer noch so gut, dass es zu reichen scheint, für diejenigen, die nicht Ich sind.

Ich soll mich mögen, so wie ich bin. Seit meinem Denkzettel bemühe ich mich darum. Ich bin anders geworden in den Jahren seither. Nicht besser, sondern schwächer. Ich versuche, mich trotzdem zu mögen, rede mit dem, der Kind in mir geblieben ist und für immer bleiben wird. Ihn mag ich am meisten. Er ist am ehrlichsten, am unverfälschtesten. Er ist rein und ohne Schuld.

Er ist es, der heute die ersten Schneeglöckchen, die meine Augen erfassen konnten in diesem Jahr, entdeckt hat und sich ganz gerührt davon von Herzen freute

Er ist es auch, der die verzaubernde Freundlichkeit, wahrgenommen und so stark empfunden hat, die mir jene junge Frau im Bistro der Tankstelle schenkte, während sie mir mein Kaffeegetränk zubereitete und mir nach entsprechend einladendem Tipp, das ausgewählte, mit Kraut, Zwiebeln und einer sehr schmackhaften Soße in einem Baguettebrötchen angerichtete Hackfleischsteak erwärmte und servierte. Als er ihr auf Ihre Frage sagte, dass das Brötchen sehr gut sei, tanzte sie mit einem „Das freut mich sehr“ in einen Nebenraum ihres Bedienareals.

Zwei Momente, während denen die Akkustandanzeige sich anschickte, ein bisschen nach oben auszuschlagen.

Aber die Woche ist noch nicht vorüber.

Ich trage Momente wie die genannten zwar lange in meinem Herzen, manchmal Tage, manchmal Wochen und manchmal vergesse ich selbst so kleine Momente gar nicht wieder. Die Zeiten aber, wo solche wie sie die Halbwertzeit noch einmal zu verlängern vermochten, sind allerdings lange vorbei.

In den letzten Wochen ist mir endlich glasklar geworden, dass ich mein verbliebenes Leben, egal wo ich gerade bin, allein lebe. Mit dem, der Kind in mir geblieben ist.

Da ist nun keine Illusion mehr, die letzte ist jetzt im Februar gestorben. Ich mache mir nichts mehr vor, ich hoffe nicht mehr. Ich kann beginnen, mich an das Maß der Enttäuschung zu gewöhnen, weil ich weiß, dass es ohne Hoffen, nicht noch größer werden kann.

Während ich diese wenigen Zeilen geschrieben habe, ist es zu spät geworden, um morgen ein wenig erfrischter aufzustehen. Dabei sind es noch eineinhalb Stunden bis Mitternacht.

Es ist immer zu wenig Zeit. Zum Schreiben, zum Schlafen, zum Lesen, zum Leben.

Wo derart zu wenig Zeit ist, kann keine Halbwertzeit noch jemals mehr werden.

Ich habe verstanden, ich hoffe nicht mehr.

Ich nehme es an, so wie es nun eben ist.

In Dankbarkeit für die Schneeglöckchen und für das schöne Charisma der jungen Frau im Bistro der Tankstelle.

***

Jessica Weiss ist Mitbegründerin, Sängerin und Gitarristin der englischen Indie-Pop-Band „Fear of Men“, die es seit 2011 gibt. Unter dem Namen  „New German Cinema“ hat sie ein noch junges Soloprojekt gestartet, von dem vor etwa einem Jahr der erste Song veröffentlicht worden ist.

Vor wenigen Tagen habe ich ein ganz aktuelles Lied dieses Projekts entdeckt, das mir besonders gut gefällt und deshalb hier teilen möchte:

New German Cinema (Jessica Weiss) – „Being Dead“

Tagebuchseite -1005-

Quintessenzen einer kleinen Reise

Ich war unter Millionen, zum ersten Mal seit mehr als eineinhalb Jahren. Ich habe meine Seele mitgenommen, sie eingeladen, unter die Millionen zu gehen.

Nun war sie dort und doch nicht. Und ist dort und kann nicht mehr zu Hause sein. Auch nicht jetzt, wo sie wieder hier ist. Scheu surft sie durch eine Unendlichkeit, von der sie bislang nichts wusste.

Sicher weiß sie indessen jedoch, dass es nur noch Punkte, Episoden, Inseln sind, bei und in denen sie keine Angst zu haben braucht und noch etwas wie Heimat fühlt. Sie weiß, dass viel davon in der Vergangenheit liegt, wenig nur in der Gegenwart und dass die Zukunft ein Nebelmeer ist und bleibt, von dem sie froh ist, wenn es unnahbar bleibt. Weil sie dann keine einzelnen Erwartungen gebiert, die sie wiederholt enttäuscht werden und wiederholt enttäuscht sein lassen könnten.

Keine Erwartungen mehr zu haben, ist die leichter zu ertragende Enttäuschung.

Unter den Millionen waren so wenige freundliche Stimmen, so wenig friedliche Gesichter …

Die meisten fand ich da, wo die Bücher sind. Dazu achtsame, höfliche Sprache. Auf den Seiten, dazwischen und darüber hinweg, selbst dann, wenn Menschen einander real zugewandt waren. Was für ein wundervolles Erleben in einem ganz und gar besonderen Kaufhaus. –

Ich habe gelernt, dass ein Kaufhaus das Paradies sein kann. Dann, wenn in ihm Geister Geist suchen und finden und die, die suchen und jene, die finden und schließlich die, die gefunden werden möchten, einander begegnen. Und einander mitnehmen. Ein Kaufhaus, in dem es nicht ums Kaufen geht, nicht um Materielles. Also das Paradies. Eine Insel. Nirgends habe ich unter den Millionen mehr schöne Menschen getroffen.

Bewusst bin ich auch dorthin gegangen, wo Leid gezeigt und reflektiert wird. Leid, wie es war und Leid, wie es ist, wie es hier, wo ich nun wieder bin, so nicht zu erschließen, so nicht zu hinterfragen ist. Ich habe wieder erkennen müssen, dass es kein noch so unvorstellbares Leid nicht doch gegeben hat und gibt. Und dass nahezu alles Leid, das grausamste zumal, immer von Menschen gemacht ist.

Das grausamste Leid ist mit Vorsatz gemacht. Und Vorsätze vermögen nur Menschen zu entwickeln.

Am Abend werden die Millionen Menschen zu Millionen Lichtern. Lichtern hinter Scheiben. Schwer vorstellbar, dass hinter ihnen mehr Freundlichkeit und Frieden ist als auf den Straßen der großen Stadt.

Ich habe gefunden, dass, wenn allmorgendlich aus den Lichtern wieder Menschen werden, nicht mehr Rücksicht, nicht mehr Respekt, nicht mehr Demut und Bescheidenheit ist und wird. Der Klimawandel unter den Menschen ist längst vollzogen. Fünf nach zwölf. Unumkehrbar.

Wie könnte es sonst sein, dass die freundlichen Stimmen, die friedlichen Gesichter immer rarer werden und die schönen Inseln immer kleiner und seltener? Wie lange werden die Orte, die Episoden, die angstvollen und leidgeprüften Seelen und jene Kaufhäuser, die noch (wie) Paradiese sind, nicht verbrannt werden von all der Hitze, all der Gier und Gewalt, dem Schreien, all dem Feuer?

Der am weitesten entfernteste Ort, an dem ich unter den Millionen Menschen war, war ein Café. Ich saß dort allein, mit jener Art des Kaffees, den ich besonders mag, den es hier aber nirgends gibt. Ich konnte dort allein sitzen, ohne dass es mir etwas ausmachte. Vielleicht, weil ich doch nicht so ganz allein dort war.

Vor dem Fenster luscherten, auf Lehnen von ein paar Korbstühlen hin und her hüpfend, ein paar muntere Spätzchen auf mein Schokoscone. Und ein paar hatten es gar ins Innere meines Rastplatzes geschafft. Zwei, drei von ihnen trauten sich schließlich sogar auf meinen Tisch, und schauten aus ihren kleinen bittenden Augen mit schief gehaltenem Köpfchen zu mir auf, wenn ich einen Happen von meinem Sconebrötchen nahm.

Ich habe einen tiefen Frieden und eine große Dankbarkeit für diese kleinen Kerlchen in meinem Herzen. Sie wissen nichts von Gier und Feuer, von Gewalt und Macht. Wenn ich irgendwo ein Buch aufschlage und ich sie zwitschern höre oder sie beim Aufschauen von den Seiten beobachten kann, vereinen sich zwei Paradiese.

So bin ich nun zurück von meiner kleinen Reise und meine Seele surft scheu durch eine Unendlichkeit, die ihr so noch nie bewusst geworden ist, wie nach diesen Tagen unter den Millionen. 

Und ihre vornehme Anstrengung ist, darin und davon nur nichts zu erwarten.

***

Children gibt es schon seit ein paar Jahren. Es handelt sich um ein weibliches Pop-Duo, bestehend aus Laura Daede und Steffi Frech, das buchstäblich „hier um die Ecke“, im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern (in der Stadt Neustrelitz), seine Wurzeln hat.

Das Lied, das ich zum Teilen herausgesucht habe, ist wohl ihr bislang bekanntestes und dennoch ein „Geheimtipp“ geblieben. Während und nach der Coronazeit ist es stiller um die beiden jungen Frauen geworden, obgleich sie weiter Lieder produziert haben. Das Lied hier belegt freilich, dass die beiden durchaus Potenzial haben – ich wünsche ihnen jedenfalls, dass ihnen bald mehr Menschen Gehör schenken mögen.

Children – „Forever & Ewig“

Tagebuchseite -1004-

Vor einer kleinen Reise

Da sind ein paar freie Tage und ich kann sie weder realisieren noch gelingt es mir, sie so zu nutzen, wie ich es mir in langen Wochen der Anforderungen, der Zwänge, des „Funktionierens“, der Erschöpfung, erträume. Vermutlich hängt das eine mit dem anderen zusammen. Ich vermag ja auch nicht zu schreiben, wenn ich innerlich nicht wenigstens ein bisschen frei bin.

Es ist beinah schon surreal, wie manifest in meinem Inneren eine Angst Bestand hat, zu verschlafen, etwas nicht getan zu haben, was unbedingt getan werden musste, davor, dass ich verpassen könnte, mich rechtzeitig wieder so zu präparieren, dass das „Funktionieren“ wieder und weiter funktioniert. Und es ist wie im vorigen Herbst, als ich immer mehr Panik vor einer eigentlich geplanten kleinen, mit einem Ortswechsel verbundenen, Auszeit entwickelte, so sehr, dass ich am Ende dann doch nicht gefahren bin.

Ebenso ist es jetzt wieder. Morgen soll der kleine Tapetenwechsel, der erste überhaupt seit mehr als eineinhalb Jahren, eingeleitet werden und die Stimme ist wieder da, die mir flüstert, doch lieber wieder einen Rückzieher zu machen. Je näher die morgige Abfahrt rückt, desto intensiver wird jenes innere Beben, das ich so verabscheue, das sich wie eine ins unermesslich ansteigende Prüfungsangst anfühlt.

Wie kann das sein, bei einer Reise von wenigen Stunden, an deren Ziel mich Freunde erwarten? Wie kann es sein, dass ich einfach nicht abzuschalten vermag? Wie ist es möglich, dass ich so seltene Freizeit mit ganztägiger, gänzlich uninspirierter Prokrastination fülle, es nicht einmal zuwege bringe, in dem schönen Roman, jenes Autors zu lesen, den ich doch so schätze?

Ich glaube die Antwort zu kennen, aber ich mag sie nicht sagen, nicht aufschreiben, nicht hören. Weil sie ein Urteil ist, eins, gegen das es kein „Rechtsmittel“ mehr gibt, eins, das unanfechtbar ist.

Vor Tagen habe ich in dem vollgestopften Zimmer, in dem ich arbeite und schlafe, in einem der vielen Kartons mit jenem Teil des Nachlasses meines Vaters, für den es in dieser Wohnung keinen Platz gibt und den sonst niemand wollte, der mir hingegen mit das Wertvollste bedeutet, eine Fotografie von ihm gefunden. Sie ist in einem Atelier entstanden, nicht groß, aber wunderschön. Sie zeigt das Gesicht meines Vaters. Sie zeigt ihn so, wie er war, wie er für mich ist und bleiben wird.

Wenn ich es ansehe, strömt eine nicht zu beschreibende Wärme in mein und durch mein Herz. Es ist seine Wärme. Immer noch bahnt sich diese Erfahrung manches Mal in Tränen einen Weg in die Welt, in den wärmsten, die ich je weinte. Ich weiß, dass das nie aufhören kann, nie aufhören wird.

Das unanfechtbare Urteil, die Bomben und Beben, die den Planeten gerade jetzt wieder so sehr erschüttern, mein Dasein, das sich nurmehr grundsätzlich in Selbstgesprächen reflektiert, mit meinem Vater teile ich nach wie vor alles. Er versteht mich zutiefst, er hat mich immer verstanden.

Meine letzte unerfüllbare Sehnsucht ist die, nach manchem ausgedehnten Spaziergang an seiner Seite, so wie wir immer wieder einmal einen unternommen haben, mit nachfolgender Einkehr vor seinem Bücherschrank, einem Reich schönster Unerschöpflichkeit an Geist und Sprache, das uns beide stets auf geheimnisvolle Weise inspiriert hat.

Ich vermisse das so sehr, die Gespräche, die wir dabei führen konnten, seine Nähe.

Weil das so ist, hat das Charisma, das jene erwähnte Fotografie ausstrahlt, eine traurig schöne Wirkung auf mich. Und es rührt mich so sehr an, dass mein Vater von seinem Foto aus, so freundlich, so herzlich, mir zugewandt gegen den traurigen Teil anlächelt.

So gehe ich also wohl morgen für eine Woche auf die kleine Reise, das Urteil kennend, die Angst im Herzen, den Roman dabei und das Lächeln meines Vaters.

***

Von Femi Luna aus der Schweiz habe ich vor knapp einem Jahr erstmals ein Lied hier geteilt. Es war eine Aufnahme ihres Debütalbums, die sehr schön anzuhören war. Das gilt auch für die erste Singleauskopplung dieses Albums, die ich heute hier vorstellen möchte. Der ganz eigene, melancholische Sound und die besondere und einprägsame Stimme der Interpretin, lassen eine unverwechselbare Atmosphäre entstehen. Ich wünsche Femi Luna, dass sie bald eine größere Hörergemeinde erreichen kann. Ihre Musik hat es verdient …

Femi Luna – „Bad Brain Party“

Tagebuchseite -1003-

Letzte Freunde

Ich kann so vieles nicht (mehr) erreichen.

Und manches, was ich wohl erreichen könnte, darf ich nicht erreichen, weil die „öffentliche Meinung“, es mir nicht zugesteht und mir nicht abnehmen würde, dass ich es niemals zum Schaden eines anderen Menschen zu leben anstreben würde.

Konventionen werden vor allem von Menschen gemacht, die sich schließlich am wenigsten an sie halten, sie aber als solche deklamieren, verbreiten und einfordern. Derartige Imperative sind insbesondere geeignet, Menschen, die einem aufrichtigen Gewissen folgen, einzuschüchtern, zu verunsichern und schlussendlich Dinge, die sie gern tun würden, die ihnen wichtig wären und für sie wichtig sind, nicht zu tun. Und, das ist augenscheinlich ein wesentliches Ziel, das die selbsternannten Moralisten verfolgen.

So wird  „öffentlich davon ausgegangen oder gar vorausgesetzt“, dass grundsätzlich kein Mensch freiwillig zugunsten anderer Verzicht zu üben bereit ist. Diejenigen, die vorgeben, das doch zu erwägen oder zu tun, gelten generell entweder als „schön dumm“ oder, in der perfideren Variante, als Heuchler oder Spinner, die mit ihrer Einstellung, die Entwicklung der Märkte und damit den „Wohlstand“ aller und durchaus auch „die Sicherheit“ gefährdeten. Das Recht des Stärkeren sei ein Naturgesetz, es ist Unterpfand des Fortbestandes und des Fortschritts der Schöpfung.

Wer auch in diesen Zeiten vor allem den Werten Frieden, Deeskalation, Diplomatie und Liebe folgt oder zu folgen bestrebt ist, gilt als gefährlicher Fantast, der sich letztlich mit den „falschen Mächten“ solidarisiert und also in hohem Maße Mitverantwortung dafür trägt, dass täglich mehr Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen ihr Leben verlieren. Wer den populären Ansichten, Meinungen und Entscheidungen „der Mehrheit“ und „der Wissenden“ nicht folgen mag, sie infrage stellt oder gar kritisiert, bedroht den Wertekanon und die Wertegemeinschaft der westlichen Demokratien.

Einer Freundschaft zwischen Mann und Frau wird regelmäßig abgesprochen, „nur“ als solche über längere Zeit als solche bestehen zu können. Vielmehr ginge es letztlich doch immer nur „um das eine“. Insbesondere keinem Mann, schon gar keinem älteren, wird „zugetraut“, eine rein auf Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung beruhende Freundschaft etwa zu einer jungen Frau oder gar einem minderjährigen Mädchen pflegen zu können. Das kann gar nicht sein, „da steckt IMMER etwas anderes dahinter“. „Die Realität BEWEIST das Gegenteil.“

So entstehen Maßregeln, Moralkonventionen, geschriebene und ungeschriebene Gesetze und Ihre Schöpfer, Verkünder und Claqueure haben immer recht in dieser Welt, die sie beschützt und wieder gebiert und sie stark werden und bleiben lässt, die freilich auch deshalb immer weniger die meine geworden bzw. geblieben ist.

Sie ist mir vielmehr fremd geworden und wird mir mit jedem Tag fremder. So sehr, dass es da auch noch jene Dinge gibt, die ich gar nicht mehr erreichen will. Oft werden diese Dinge „Fortschritt“ genannt. Von ihren Schöpfern, den Verkündern und den Claqueuren am intensivsten und lautesten, jenen also, die auch die Moralkonventionen „machen“.

Für mich ist und bleibt es verstörend, dass es da inzwischen eine immer beliebter werdende und immer häufiger genutzt werdende künstliche Intelligenz gibt, von der ich nicht weiß und nicht erfahren werde, wer sie mit ihrem „Wissen“ füttert und sie mit „ihren Fähigkeiten“ ausstattet.

Eine künstliche Intelligenz, die etwa Lyrik auf Bestellung erschafft. Thema, Stimmung, Stil, potenziell zu erreichende Rezipienten eingeben, und nur wenige Minuten später, ist ein Gedicht oder eine Ballade, den Wünschen und Vorgaben entsprechend entstanden. Zum Ausdrucken, zum Mitnehmen, zum Vortragen, so, als wenn das Werk mein eigenes wäre.

Zu jedem Thema, jedem Sachverhalt ist auf Wunsch ein Text, eine Analyse, eine Darstellung, einschließlich eines Fazits abrufbar, ohne eigene geistige Leistung ohne eigene Recherche, ohne Überprüfung.  Schnell und absolut kostenlos. Wessen Darstellung, Meinung oder Fazit man da erhält, erfährt man nicht. Ob das „Produkt“ überparteilich, ausgewogen, auf seriöser, tatsächlich unabhängiger Recherche beruhend, ist, bleibt offen.

Wenn all das (und noch mehr) möglich ist, wozu braucht es da noch Journalisten oder Redaktionen, die finanziert werden müssen? Die Kreativität wie vieler Autoren, die berechtigterweise für ihre Arbeit einen Lohn benötigen, um (über)leben zu können, wird wohl bald als obsolet angesehen werden. Welche Bedeutung, welcher Stellenwert, welcher Sinn und welche Berechtigung, werden in Zukunft menschlichem Diskurs, philosophischem Hinterfragen, dem Erlernen von Grundkompetenzen (Schreiben, Formulieren, zwischenmenschlicher Umgang) noch zugestanden werden, wenn alles über eine oder mehrere künstliche Intelligenzen abruf-, nutz- und konsumierbar ist?

Es gibt nur einen Ort, an dem ich noch alles erreichen kann, darf und will.

Absonderlich, dass dieser besondere, wertvolle Ort Teil jener mir fremd und fremder gewordenen Welt ist, obendrein nur durch sie werden konnte und existieren kann und zugleich doch ausschließlich der meine ist, wenn ich das nur möchte.

Es ist der Ort meiner Seele, es ist mein Herz.

Wenn und wann immer ich kein Vertrauen mehr finde, hier wird mir vertraut, sogar uneingeschränkt. Weil dieses Herz weiß, dass ich grundehrlich, ja aufrichtig, bin. Mein Gewissen ist seit ewigen Zeiten sein bester Freund, weil dessen Gesetze, dessen Konventionen ausschließlich aus Liebe geboren sind, aus dem Bestreben, keinen Menschen zu verletzen, die Schöpfung zu achten, beides zutiefst zu respektieren.

Meinem Herz darf ich alles sagen, ihm gegenüber brauche mit keiner Meinung „vorsichtig“ zu sein. Mein Herz ist erfreut und dankbar und hegt keinerlei Argwohn, wenn ich jungen Freundinnen Zimmer in seinem Inneren einrichte und mich dort mit ihnen treffe. Mein Herz verurteilt und vergleicht mich nicht. Es lacht nicht über meine Bescheidenheit, meine Eigenart, Dinge zu sehen und zu tun, meine skurrile, manchmal womöglich auch naive Art, an Gutes zu glauben und Liebe zu geben.

Es erlaubt mir alles und gesteht mir alles zu, obwohl es doch so gebeutelt ist, ihm so sehr zugesetzt wurde und wird, dass es manchmal schier zerspringen möchte, obwohl es so oft ganz schwach ist von all dem und der Schwäche, die ich selber bin und verkörpere.

In letzter Zeit gehe ich immer öfter in mich, in dem Sinne, meinem Herzen, meiner Seele, keine Schuld mehr zu geben für ihre Schwäche, die meine ist und, und in dem Ausmaß, wie sie anwächst, zu meiner wird. Dass sie trotz allem immer noch so stark sind, immer noch bereit sind, mich anzunehmen, wie ich bin, mir uneingeschränkt zu vertrauen, mir Heimat zu sein, davon bin ich tief berührt und dafür bin ich sehr dankbar.

Wenn mich alles verlässt und schließlich verlassen hat, werden mein Herz und meine Seele immer noch da sein für mich.

***

Es ist sehr schwierig, etwas über Elanor Moss in Erfahrung zu bringen. Selbst ihr Geburtsdatum habe ich nicht ermitteln können. Nur, dass sie im Gebiet um Lincolnshire (England) aufgewachsen sein soll und nun wohl in Yorkshire lebt. Dort soll sie mittelalterliche Literatur studiert und begonnen haben, eigene Musiken und Texte zu schreiben. Sie hat Kontakt zu anderen Künstlern gesucht und teilweise mit diesen zusammengearbeitet.

Inzwischen gilt sie wohl als eine zugleich aufstrebende und aufregende Indie-Folk-Pop-Sängerin und Songschreiberin. Bislang hat sie erst eine EP (2022) veröffentlicht, jetzt im Februar 2023 soll eine zweite folgen. Das wundervolle Lied „Cosmic Memory“ ist eine Auskopplung aus dieser EP.

Elanor Moss – „Cosmic Memory“

Tagebuchseite -1002-

Feierabend

Wo es eben noch laut war, ein Gewimmel von Menschen, ein Stimmengewirr, Gestikulieren, Lachen, Schreien, Weinen, sich mischend und einander übertönend, ist nun Stille. Der Wind treibt Knäuel zerknüllten Papiers durch die Leere.

Wo es eben noch bunt war, Jacken, Shirts und Tücher in allen Farben, ebenso die Frisuren der Leute, Lichter blinkten, Funken stoben, ein Glitzern, Scheinen und Schimmern war, ist inzwischen nur beton- und asphaltgrau, von einer changierenden Staubschicht überzogen.

Wo eben noch geschriebene Debatten zu lesen waren, Diskurse über Gott und die Welt, Fragen an alle und niemanden, die so viele auf unterschiedlichste Weise bewegten, bleiben nun die Zeilen leer.

An den letzten Litfaßsäulen lösen sich weiße Plakate in Fetzen ab.

Alles und alle sind fort.

Das Hier ist zum Nichts geworden.

Schritte eines einzelnen Menschen hallen hohl durch das Nichts. Meine Schritte

So erschöpft ich auch bin: Ich höre, ich sehe, ich spüre. Deutlich. Schmerzhaft deutlich. Unmittelbar. Das alles geschieht in mir selbst, meinem Kopf, meinem Herz. Aus einer anderen Welt, jener, die eben noch hier war, in der es weiter tönt und schimmert und debattiert, mitten hinein in das Nichts, in dem seine Schritte hallen und aus dem alles und alle fort sind.

Ich habe nicht einmal mehr Rücklichter gesehen, nicht den letzten Ton vernommen und nicht wahrgenommen, wie der letzte Buchstabe verblich.

Meine Seele trägt zu schwer daran, die Eindrücke des Tages verarbeiten, ja selbst zu schwer, als dass sie sich selbst noch tragen könnte. Wie soll sie da noch Inspiration entwickeln können, dieses oder jenes zu tun, und sei es nur für sich. Längst ist alles verbraucht, verbrannt, verflogen.

So schließe ich jetzt die Augen, damit das schmerzhafte Spüren aufhört und die betongraue Leere nicht weiter sichtbar bleibt und ich die eigenen im Nichts hallenden Schritte nicht mehr hören muss.

Das ist mein letztes Vermögen, Flucht zu versuchen, in ein paar, fast immer zu wenige Stunden der Nacht hinein. Stunden voller Ungewissheit, Stunden, die oft auch böse Überraschungen bergen.

Schließlich entschlafe ich meiner Einsamkeit, meist nur, um alsbald in der Macht der Doppelsinne, der Janusköpfe, der Zweifel, welche meine Träume zeichnen und dort zu Gestalten werden, gefangen zu sein.

So geht es, bis es wieder beginnt, wie gestern zu sein, so laut, so bunt, so voller Lettern, so schmerzhaft …

*

Jean-Benoît Dunckel (geb. 7. September 1969) ist ein französischer Musiker, der vor allem dafür bekannt ist, zusammen mit Nicolas Godin eine Hälfte des französischen Musikduos „Air“ zu sein. Außerdem arbeitete er unter dem Namen „Starwalker“ mit dem isländischen Musiker Bardi Johannsson zusammen. Schon immer beschritt er aber auch Solopfade,

Mitte 2022 veröffentlichte er sein drittes Soloalbum mit dem Titel „Carbon“. Ein Lied dieses Albums, das mir besonders gefällt, ist dies hier:

JB Dunckel – „Zombie Park“

Tagebuchseite -1001-

Schwarze Schöne

Sie ist eine schwarze Schöne. Sie hat das Gesicht, das meine Seele sich wünscht. Nur ist es ein wenig blass und von einem durchsichtigen, schwarzen Schleier umhüllt. Wie ihr ganzes Gewand, welches von gleicher Farbe und Struktur ist, lässt er die wahre Gestalt des geheimnisvoll anmutenden Wesens, die grazil und zerbrechlich zu sein vorgibt, nur erahnen.

So ist sie trügerisch. Ein Trugbild aber, ist sie nicht.

Sie kommt, wenn ich versuche, ein wenig Atem zu holen, wenn mich etwas Angenehmes zu erreichen trachtet, etwa, wenn ich eine Musik höre, die ich mag. So sanft wie mich deren Töne streicheln, schmiegt sie sich an mein Herz. Sie umarmt es im Klang der Melodie. Das Herz ist im Augenblick Freude: Eine Umarmung, wie schön, wie zauberhaft!

Die schwarze Schöne gewährt sie freigiebiger, seit sie weiß, dass sie nahezu die einzige ist, die sie schenkt. Das Herz befällt im Vergehen der ursprünglichen Freude schon bald ein seltsamer Schwindel, eine Benommen- und Beklommenheit, Spiegelbild des seltsamen Lächelns der Schönen, das allmählich zu gefrieren scheint.

Ich spüre die Kälte und bin etwas irritiert als ich bemerke, dass die Musik mich zurückholt. Ich fühle plötzlich die Nähe wärmender Tränen, die ich nicht weinen kann und bin der Musik dankbar. Und höre sie deshalb immer wieder.

Immer wieder auch schaue ich an den Wochenenden auf die Inserate in der Zeitung, die davon künden, wie viele Jahrgänge nach dem meinen und um den meinen herum gestorben wird. Immer häufiger. Ich gerate in Nachdenklichkeit, in die hinein ich die schwarze Schöne rufen höre und mich schaudert es ein bisschen. Seitdem das erstmalig geschah, hört es nicht mehr auf, das Schaudern.

Obwohl das so ist, schlage ich an jedem Wochenende wieder die Seiten mit den Inseraten auf. Es ist, als sei die schwarze Schöne meine Gebieterin als befehle sie es.

Ich beginne zu ahnen, dass sie die wahre Schöpferin jener Welt ist, die ich so liebe, nicht meine Seele.

Sie hat sie so schön gemacht und lässt sie immer schöner werden, weil sie weiß, dass diese Welt mein einziger Fluchtort ist. Sie weiß, dass, je schöner sie sie macht, der Schwindel meines Herzens und das Weh meiner Seele größer und stärker werden. Wieder lächelt sie kalt, weil sie gewiss ist, dass die Welt, die ich liebe, Illusion ist, ich sie niemals wirklich erreichen  und in ihr leben können werde.

So, wie die Musik immer wieder geht, gehen muss, ist es mit all dem anderen, was mir lieb ist, auch. Und immer mehr geht für immer.

Was bleibt, ist die schwarze Schöne, die mich alles fühlen lässt und macht, dass das Schwere, das, was meine Ängste auslöst und Bestand haben lässt, die Oberhand behält.

Eigenartig, wie rational, wie stoisch, ich das niederzuschreiben vermag. Es ist, als wenn diese Erkenntnis mich gar nicht erschrickt, mir gar keine weitere Welle der Angst beschert.

Dafür erschrickt mich etwas anderes:

Ich bin im Begriff zu durchschauen, dass die schwarze Schöne ein Kind meiner eigenen Seele ist, von ihr geboren, in ihr gewachsen und weiter heranwachsend. Als Kind noch mit mir spielend, ihre Kräfte hier und da erprobend, ist sie nun erwachsen geworden.

Vom Spiel ist nichts geblieben. Alles ist längst Kampf und wird zum Kampf. Am jedem Tag.

Solange die Kräfte reichen, meine Kräfte.

***

Es ist gerade einen Monat her, seit ich erstmalig ein Lied von Sarah Klang hier vorgestellt und geteilt habe. Ich hatte seinerzeit schon angedeutet, dass die schwedische Sängerin und Songschreiberin sehr viele sehr hörenswerte Lieder geschrieben und produziert hat. Es sind dies alles Lieder, die zu jener Musik zählen, die ich als schön empfinde. Eines, das im Mindesten, was seinen Titel betrifft, besonders zu dem Text da oben passt und ich sehr gern höre, ist das folgende:

Sarah Klang – „Endless Sadness“

Sammelsurium -129- (Ein Schnipsel und ein Lied)

Schnipsel (26)

Die Stadt liegt hinter ihm. Die flackernde, lärmende, unruhige Stadt, in deren Straßen und hinter deren Mauern die Musik atemlos durch die Nacht jagt. Und die Menschen. Und alles andere sonst auch. In eben dieser Geschwindigkeit hatte er dieser Tage immer wieder ein „Frohes Neues!“ oder „Gesundes Neues!“ dahingesagt gehört.

Wie viel ist ein Wunsch wert, der, weil so hektisch dahingesagt, wie es der Zeitgeist vorzugeben scheint, nur noch aus zwei Worten besteht und voraussetzt, dass die Adressaten sowieso wissen, was gemeint ist? Vermutlich wissen sie es ja wirklich, aber wie das Gesagte tatsächlich gemeint ist, lässt sich in einem Zwischenraum von zwei im allgegenwärtigen Tempo des Lichts und der Töne herunter gespulten Worten wohl kaum erspüren.

Wo es ständig lärmt, flackert und unruhig ist, sind Spüren, Fühlen und Empfinden zu leise, können nicht mithalten, nicht bestehen. Hatten sie einmal einen Platz in dieser Welt, so ist dieser längst verschwunden. Worte, die Wünsche meinen, werden zur Floskel oder bleiben ungehört und unbemerkt, zumal wenn sie eine sachte Stimme sagt.

Deshalb ist er gegangen.

Nicht, dass er so große Wünsche gehabt hätte. Im Gegenteil, sie waren, sie sind zu klein, zu unbedeutend, für die schrille, laute, jagende, blinkende Welt, zu klein, nicht von Bedeutung und also zu vernachlässigen.

Mit dem fortschreitenden Zurückbleiben der Stadt hinter seinen Schritten, beginnt er diese mehr und intensiver zu hören. Bis er schließlich nur noch diese, seine Schritte hört. Sonst nichts, in der immer vollkommener werdenden Dunkelheit, die das letzte Reflektieren der Lichter der Stadt, schließlich ganz und gar verschluckt.

Er fühlt sich geborgen und verlassen zugleich und bemerkt, dass das Geräusch seines schlagenden Herzens jenes der Schritte, die er in die Finsternis setzt, begleitet und mehr und mehr deren Zeitmaß bestimmt. Dass dies einmal so sein würde, er sich im Zeitmaß seines Herzens bewegen dürfe, war immer einer seiner kleinen Wünsche gewesen.

Freilich hatte er das Wahr werden dieser Sehnsucht immer als von einem sanften Licht begleitet geträumt. Hier aber ist es nun ganz und gar dunkel und nirgendwo ist ein freundliches, sachtes Leuchten auch nur zu erahnen. Er wähnt, sich zu verlaufen oder sich schon verlaufen zu haben.

Seine Schritte werden kürzer, in dem Maße, wie sein Herz lauter und schneller zu schlagen beginnt. Es schlägt schließlich so stark und so laut, dass Angst in ihm aufsteigt, es schwillt an, wird grell, fast pfeifend …

… fiepend …

Sein Wecker fiept ihn unbarmherzig aus seinem Traum.

Die Stadt beginnt wieder zu lärmen und zu flackern. Das Herzklopfen und die Angst bleiben.

Er schaltet das Radio ein. Die Musik rast durch den Äther von Rhythmen im rasanten Viervierteltakt getrieben, dazwischen ist die Zeit für Worte knapp bemessen. „Frohes Neues!“ hört er den Moderator rufen. Ein Wunsch, zwei Worte.

Es ist wie immer …

***

Das „Frank Popp Ensemble“ war eine deutsche Band aus Düsseldorf, die erstmals im Jahr 2001 einen Song veröffentlichte. Mit dem Lied  „Hip Teens Don’t Wear Blue Jeans“, das im Jahr 2003 eine Coca-Cola-Werbung begleitete, landete die Band einen Achtungserfolg in den Charts. Bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2008 folgten die Musiker mit ihren Veröffentlichungen dem Soulstil der 60er Jahre. 2009 brachte Frank Popp noch das Album „Reciever“ unter seinem Namen heraus, 2020 wurde es unter dem ursprünglichen Bandnamen dann noch einmal wiederveröffentlicht.

Gemeinsam mit der südafrikanischen Musikerin Lucy Kruger präsentiert das Frank Popp Ensemble mit „Drifting“ nun ganz aktuell eine sanftere, melancholische und psychedelische Musik. Das Lied ist eine Auskopplung des Albums „Shifting“, das am 27.01.2023 bei Unique Records erscheinen soll. – Mir gefällt es sehr gut:

Frank Popp Ensemble – „Drifting“

Tagebuchseite -1000-

Über die sehr relative Bedeutung einer Anzahl beschriebener Seiten

Ohne Vorliegen einer Absicht ist es nun wie es ist. Meine erste Tagebuchseite des Jahres 2023 trägt die Nummer 1000.

Im September 2011, als ich begonnen habe mit dem bloggen, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass das einmal Realität sein könnte. Die 1000 ist für mich allerdings nun auch nichts wirklich Besonderes. Sie hat sich halt so ergeben, weil ich schließlich immer weitergeschrieben habe.

Genaugenommen sind es zudem sogar noch weit mehr Seiten, die hier von mir beschrieben worden sind, denn wohl nahezu alle Texte, die ich auf Tagebuchseiten verfasst habe, beanspruchten schließlich mehr Platz, als er auf einer gewöhnlichen Seite im Format A4 vorhanden ist.

Außerdem besteht mein Blogtagebuch ja nicht nur aus Tagebuchseiten im eigentlichen Sinn, sondern umfasst weitere Kategorien, in denen sich unter anderem Aphorismen, Essays, Verse, Rezensionen und anderes finden. Insgesamt sind so bis heute 1395 Einträge zusammengekommen während  11 Jahren und etwa 4 Monaten.

Vor allem in den letzten beiden Jahren, habe ich weniger häufig zu schreiben vermocht, die Zahlen derjenigen, die meine Beiträge aufgerufen, gelesen oder kommentiert haben, sind ebenfalls recht stark rückläufig.

*

Mir bedeuten all diese Zahlen freilich nichts. Schreiben an Quantität messen zu müssen oder zu wollen, führt weg von dem, was Schreiben charakterisieren sollte: Anspruch, Kreativität, Qualität, Verantwortungsbewusstsein und, je nach Genre, Poesie, Variabilität, Innigkeit. Schreiben als zweite, als vervollkommnende Dimension des Sprechens, als Dimension der Schönheit von Sprache.

Ich war und bin kein Autor, kein Schriftsteller, aber etwas von diesem Charakter in meinen Zeilen auffindbar zu machen, habe ich mir vom ersten Buchstaben, den ich hier niedergeschrieben habe, immer gewünscht.

Schreiben um meines Selbstverständnisses willen war und ist immer mein erstes Anliegen gewesen und geblieben. Dabei war mir jener Charakter stets wichtiger als das Erreichen von Aufmerksamkeit oder gar eines Publikums.

Dass ich schon bald eine sich zwar verändernde, aber beständig mich begleitende Leserschaft hatte, war und ist nach wie vor eine Überraschung für mich. Mehr noch, dass mir einige Menschen aus diesem Kreis sehr lange die Treue gehalten haben, zwei sogar nahezu von Beginn an bis zum heutigen Tag. Und, dass schließlich sogar persönliche Begegnungen zustande gekommen und wirkliche Freundschaften erwachsen sind, erscheint mir unverändert unglaublich.

*

Unglaublich vor allem auch angesichts der Tatsache, dass sich mein Schreiben verändert hat, dass es mit den Jahren immer weniger aus der Freiheit meines Geistes, meiner Empfindungen und Eindrücke geboren wurde.

Mein Blogtagebuch ist bei aller Anonymität, bei allem, was ich angesichts seiner Öffentlichkeit nicht vollkommen offen darstellen konnte und wollte, ein Abbild, ein Spiegel meines Lebens während der über seinem Schreiben vergangenen Jahre.

Wenn ich darin blättere, gerate ich manchmal ins Staunen, manchmal wird Sehnsucht in mir geboren, mitunter schüttele ich den Kopf oder werde immer leiser. Es ist, als ginge ich ein Stück Weges mit dem, der da geschrieben hat und ich habe manches Mal das Bedürfnis, mit ihm zu reden. Aber das fällt mir letztlich immer sehr schwer und meistens wird nichts daraus und wir gehen schweigend nebeneinander her.

Ich wünschte, ich könnte wieder bzw. überhaupt literarischer schreiben, ohne mein ICH zu sehr betrachten und reflektieren zu müssen. Das ist mir zuletzt leider mehr und mehr abhandengekommen. Ich wünschte, mehr Geschichten erzählen und mich häufiger in Versen ausdrücken zu können.

In meinem Kopf existieren beharrlich Visionen von zwei Projekten, das Schreiben betreffend. Mir war schon immer bewusst, dass sie mir sehr viel abverlangen würden, aber sie bedeuten mir nach wie vor viel. Allerdings habe ich mich hinsichtlich meiner „Freiheit“ schreiben zu können, immer weiter von ihnen entfernt.

*

Wie es hier weitergehen wird in meinem Blogtagebuch, weiß ich auch darum nicht vorherzusagen. Manchmal fühlt es sich in mir so an, als wenn ich gerne konkretere Pläne dafür hätte. Aber höre ich in mich hinein, dann habe ich keine, dann bleibt es still.

Mutmaßlich werde ich um meiner selbst willen nie aufhören können zu schreiben.

Wenn ich darüber nachdenke, gesellt sich seit ein paar Jahren zudem immer die Stimme meines Vaters dazu. Das bedeutet sehr viel für mich, noch viel mehr, seit ich sie in der Realität meines täglichen Daseins nicht mehr zu hören vermag. Wenn ich überhaupt für und, wenn irgend möglich, im Sinne irgendeines Menschen mein Schreiben fortsetzen werde, dann für ihn.

***

Honey Harper (eigentlich William Fussell) wurde 1989 in Adel, Georgia, USA geboren. Sein Vater war ein Imitator von Elvis Presley. Er selbst sang zunächst in der Dream-Pop-Band  „Mood Rings“, die im Jahr 2013 ein Album veröffentlichte.

Die Lieder seines ersten eigenen Albums „Starmaker“ aus dem Jahr 2020 schrieb er alle selbst, gemeinsam mit seiner Frau Alana Pagnutti. Dieses Album, wie auch sein heute hier von mir geteiltes aktuelles Lied (eine Auskopplung aus seinem 2022 erschienenen zweiten Album) verkörpern eine besonders schöne, moderne Interpretation von Country-Musik. Hier ist:

Honey Harper –  „Heaven knows I won’t be there“

Tagebuchseite -999-

Wann und wo der Morgen dämmert

Die Welt der Worte ist still, geheimnisvoll und voller Überraschungen. Ich mache mich immer wieder auf, sie zu besuchen, denn es ist schön dort.

Nichts ist bedrohlich, aber es gibt immer aufs Neue viel zu entdecken und zu bestaunen. Und ich finde immer wieder Menschen in verschiedenen Erscheinungsformen in dieser Welt, denen ich gern folgen mag auf ihren Streifzügen dort. Sich mit ihnen auf unterschiedlichste Weise auszutauschen, Inspirationen von ihnen geschenkt zu bekommen, zu wissen, dass eine gewisse Seelenverwandtschaft zwischen uns besteht, lindert manches schlimme Empfinden, ist tröstlich und motivierend.

Wenn alles andere schreit, überfordert, zerstört, verletzt, zerbricht – diese Welt, sie ist da, sie bleibt, sie ist eine beständige Einladung. Sie ist Heimat für mich, ein Zuhause.

Erst vor wenigen Tagen schenkte mir in jener Welt jemand zwei Wörter und eine Frage, die mich seither sehr beschäftigt haben: Warum bricht die Morgendämmerung an, die Abenddämmerung aber herein?

Morgendämmerung verheißt werdendes Licht, bedeutet Erwachen, steht am Beginn eines Tages, für seine Jugend, markiert so einen Anfang, wenigstens in Teilen von etwas Neuem. Es ist noch früh und somit noch Zeit für Hoffnungen und Erwartungen, die Möglichkeit von Optionen und Alternativen, wenigstens im Geiste. – So werden es viele denken, wahrnehmen, spüren.

Abenddämmerung nimmt das Licht, lässt es dunkel werden. Sie steht für den Lauf zum Ende des alt gewordenen Tages hin. Vieles, was geschehen ist, wird nicht mehr ungeschehen gemacht werden können, auch das nicht, was nicht gelungen ist, was verletzt, zerstört, zerbrochen hat. Bisweilen fühlt es sich unwirklich an, dass es schon (wieder) zu dämmern beginnt, nachdem die Sonne doch eben erst aufgegangen zu sein schien. Endlichkeit wird Bestandteil des Realen. So wie der einzelne Tag wird alles irgendwann zu Ende sein. – So wird es von vielen erlebt werden.

Immer noch vergessen wir, dass auch „viele“ niemals „alle“ sind. „Viele“ ist gerade so unbestimmt wie „Wahrheit“. Beides, beide, sind relativ.

So gibt es Menschen, die sich vor jedem neuen Morgen fürchten. Die Ungewissheiten oder zu erwartenden Herausforderungen des neuen Tages, die durch die beginnende Dämmerung an Kontur gewinnen, lösen Sorge oder gar Angst aus. Statt Hoffnungen bestimmen Befürchtungen das Erwachen und jedes Licht wird mehr und mehr zu einem Blenden.

Und es gibt auch solche, vielleicht sind es aber auch eben die, die bang auf die Morgendämmerung schauen, denen die Dunkelheit, die der Abend bringt, Vorfreude auf eine Atempause schenkt, die sich danach sehnen, sich endlich wieder in das Dunkel fliehen zu können, die gar Geborgenheit darin finden.

Für die mag wohl der Abend anbrechen und sie zittern vor dem Hereinbrechen eines neuen Morgens.

Nun steht nach unserer Zeitrechnung ein neues Jahr unmittelbar bevor. Wird es anbrechen oder über uns hereinbrechen? Für mich macht es keinen Sinn eine Antwort auf diese Frage zu finden, weil schon die Frage keinen Sinn macht.

Denn für den Zeitenlauf als solchen gibt es in wenigen Stunden keine Zäsur. Die Zeit fließt eben dahin, vollkommen unabhängig von uns Menschen. Und in ihr unsere Existenz, das, was in der Summe seiner Endlichkeit unser Leben sein bzw. ausmachen wird.

So habe ich auch heute wieder keine Vorsätze. Ich habe Wünsche, ich versuche zu hoffen. Im Rahmen meiner verbleibenden Lebenszeit, deren Dauer ich nicht kenne.

Mit Blick auf das, was zurückliegt, wünsche ich mir, dass mehr anbrechen als hereinbrechen möge. Wissend, dass das eine wie das andere vor allem menschengemacht passiert. Weil das so ist und meine Erfahrungen befragend, bin ich inzwischen sehr skeptisch.

Während ich nun die Monate des Zeitenlaufs, den wir 2022 genannt haben, gedanklich noch einmal durchstreife, wird mein Sehnen beständig größer nach jener schönen, stillen, geheimnisvollen, aber niemals bedrohlichen Welt. Der Welt der Worte, die mir Heimat schenkt, an sich und in den Menschen, die mir dort begegnen. Jeder Besuch dort ist wie, wenn eine Morgendämmerung anbricht …

***

Nathalie Cardone ist eine bereits 1967 in Frankreich geborene Tochter einer Spanierin und eines Italieners. Sie ist Schauspielerin und Sängerin. In ihrem ersten Film (1988) spielte sie an der Seite von Gérard Depardieu und Catherine Deneuve. Weitere Filme folgten.

Ihre musikalische Laufbahn begann 1997. Zwei Jahre lang erschienen einige Titel, von denen sie wohl die meisten selbst komponiert hat und ihr erstes Album. Nach einer längeren Pause, über die offenbar wenig bekannt ist, soll im Jahr 2008 ein neuer Song von Nathalie Cardone herausgekommen und ein neues Album geplant gewesen sein. Ob das geschehen ist und wohin sich die Spur der Schauspielerin und Sängerin dann verloren hat, lässt sich nicht herausfinden.

Ein mich sehr ansprechendes, wunderschönes Lied von Nathalie Cardone ist mir dieser Tage zufällig begegnet, hier ist es:

Nathalie Cardone – „Mon Ange“

Tagebuchseite -998-

Über den letzten Grund des Schreibens

Plötzlich steht alles still. Nichts ist mehr zu hören. Der Modus ist ein anderer. Sagt meine Ratio.

Ich bin irritiert, so wie jedes Mal am Ende eines Jahres. In mir drin ändert sich nichts auf Kommando. Weil das so ist, braucht es einige Tage, bis meine Seele versteht, dass sie ausruhen darf. Und noch etwas mehr Zeit benötigt sie, das dann auch wirklich zu versuchen. Wenn sie es endlich realisiert und nach mühevoller Anstrengung ein paar Wege wiedergefunden hat, die vormals erfolgversprechend gewesen sind, was das Ausruhen betrifft, wird es schon wieder laut, obwohl es draußen noch eine Weile leise bleibt

In mir drin wird es schon wieder laut. Vorauseilender Gehorsam jenes kranken Ichs, das weiß, was von ihm erwartet wird und immer wieder alles aufwendet, um dem zu entsprechen.

Früher habe ich während der Tage am Ende des Jahres manche Inspiration in mir gespürt, etwas zu schreiben und habe das dann auch getan. Inspiriert. Manch schöner kleiner Text ist dabei entstanden.

Ich sehe die Tagebuchseiten durch, die ich in diesem Jahr beschrieben habe. Ich konstatiere, dass die meisten ohne Inspiration entstanden und vollendet worden sind. Sie lesen sich nicht schön, sie erzählen wenig, beschreiben augenscheinlich immer dasselbe: einen Zustand, der jede Inspiration erstickt und tötet, bevor sie sich auch nur ein ganz klein wenig entfalten könnte.

Wie und warum habe ich dann trotzdem geschrieben? Seltener zwar als in den Jahren zuvor, aber eben doch: Geschrieben.

In dem Roman, den ich gerade lese und dessen Autor ich mittlerweile wahrlich verehre, habe ich die Antwort gefunden: Die meisten meiner Texte dieses Jahres sind aus Notwehr entstanden!

Ja, Schreiben kann Notwehr sein: gegen die Ängste, gegen die Depression, gegen die Einsamkeit, gegen den Stress, gegen die Erschöpfung, gegen die Krankheit, gegen die Art des eigenen Existierens.

Schreiben aus Notwehr geschieht, wenn nichts anderes (mehr) geht. Schreiben fühlt sich immer ein wenig wie Teilen an. In der Notwehr teile ich das, was ich schreibe, mit mir selbst. Die Einbildung, dass dadurch manches leichter wird, stirbt zuletzt. So zu schreiben geschieht nicht aus Motivation, nicht freiwillig, es geschieht aus und mit Überwindung.

Überwindung bedarf Aktivität. Und so bedeutet dieses Schreiben immerhin noch, nicht bloß und andauernd zu verharren in den Ängsten, den Depressionen, der Erschöpfung. Wer will, kann und möchte, mag darin etwas Positives sehen.

Mir fällt das schwer, weil fast das ganze übrige Leben schon nur noch Überwindung ist, Überwindung erfordert, damit ich weiter existiere.

Schreiben aus Notwehr, Schreiben gegen etwas, Schreiben aus und mit Überwindung, ist nicht das Schreiben, das ich so liebe, das ich so gern tue. Es ist kein freies Schreiben. Es sind Notizen und Briefe aus einem Gefängnis. Und so lesen sie sich auch.

Ich habe während dieses Jahres mehr als einmal darüber nachgedacht, ob ich weiter so schreiben sollte, wenn ich es ja doch eigentlich nicht möchte. Zu einem belastbaren Ergebnis haben mich diese Gedanken (bisher) nicht geführt. Eine andere, eine sehr finale Frage, steht dem im Weg: Was passiert (mit) einem Menschen, dem seine letzte Verteidigungsmöglichkeit, die der Notwehr, nicht mehr zur Verfügung steht oder genommen wird?

Ich erinnere mich, dass ich manches Mal geschrieben habe, wie wichtig und sinnvoll es sei, allem Ungemach zum Trotz, auf der Suche zu bleiben. Zu suchen ohne den Vorsatz, unbedingt finden zu wollen, zu suchen, um ein Minimum an Offenheit zu bewahren, Offenheit, um nicht zu übersehen, was immerhin ein wenig Licht und Wärme spendet.

Ein bisschen Licht und Wärme habe ich so tatsächlich wahrnehmen, spüren und mich darin ein wenig einhüllen können. Es waren, es sind Momente, die einem liebevoll gepackten Päckchen, einigen für mich geschriebenen Zeilen und in mir lebendig gebliebenen Erinnerungen ebenso innewohn(t)en wie einem Buch, ein paar Melodien und einem Hauch mich ab und an streifender realer Atmosphäre.

Ich mag nicht daran denken, was kommen wird, aber ich bin auf dem Weg, diesem Jahr „Adieu“ zu sagen, diesem Jahr der Notwehr …

***

„Widowspeak“ bedeutet so viel wie „Witwensprache“. Weshalb sich die Indie-Pop-Band, seinerzeit bestehend aus Molly Hamilton, Michael Stasiak und Robert Earl Thomas, 2010 anlässlich ihrer Gründung in Brooklyn diesen Namen gegeben hat, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Aber dass die Band etwas Besonderes ist, habe ich bei Hören einiger Songs sehr schnell erfahren dürfen. Nicht etwa nur deshalb, weil Sängerin Molly in den Anfängen der Band so schüchtern war, dass sie sich nicht traute, vor ihren Mitstreitern am Mikrofon zu singen, statt dessen nur Mundbewegungen machte.

Heute bilden Molly und Robert die Kernbesetzung der Gruppe, deren Zusammensetzung ansonsten zwischendurch gewechselt hat. Insgesamt sechs Alben sind bis heute produziert worden. Die Band pflegt einen sanften, etwas nostalgisch anmutenden, von der besonderen Stimme Molly Hamiltons sehr treffend untersetzten Indie-Pop, in den wechselweise andere Genres mit einfließen.

„True Blue“ ist eine hörenswerte Auskopplung aus dem jüngsten, in diesem Jahr (2022) erschienenen Album:

Widowspeak – „True Blue“

Tagebuchseite -997-

Vom Wandel des „oder“

Ich lasse eine Musik ihre sanften Wellen im Raum verbreiten. Wenn sie mich erreichen, ist es ein bisschen wie an einem Wasser, mit dem ich im Zwiegespräch meine Geschichten teile.

Selbst das ist zu einem Traum geworden. Also träume ich ihn, an einem Sonnabend, der einmal mein Lieblingstag der Woche war. Das ist schon eine Weile her …

*

Ich spreche ein wenig davon, wie es damals in dem Land meiner Geburt gewesen ist, im Land meiner Kindheit und Jugend, welches vor allem, seitdem es untergegangen ist, als ein langweiliges geheißen wird, auch deshalb, weil fast alle Wege bereits vorgezeichnet gewesen seien, es kein Abweichen, keine Alternativen gegeben habe.

Das war wohl so, von vielen Menschen hörte ich derweil, wie sehr sie darunter gelitten haben.

Meine Kindheit und meine Jugend habe ich nicht als ein Leiden empfunden. Vor vielen Weichen habe ich gestanden. Immer und immer wieder, musste, konnte, durfte ich mich entscheiden, sie zu stellen, einen der Wege, den sie freizugeben vermochten, auszuwählen und sodann zu gehen. Gar nicht selten gelangte ich an einem einzigen Tag gleich an mehrere derartige Abzweige. War eine Weiche blockiert, machte ich mir kaum Gedanken darüber, es würde ja schon bald eine andere, neue kommen, die sich wieder stellen ließ.

Meine Eltern hatten mich behutsam gelehrt, nicht zu hadern. Sie taten es auch nicht. Jedenfalls habe ich nichts dergleichen bemerkt.

So war und blieb Kinder- und Jugendland für mich ein Rahmen, in dem ich, wenn ich aufmerksam durch die Welt ging, leicht ein „oder“ finden konnte. „Du kannst es so oder so machen“, „Wenn du das tust, kann du dies oder das erreichen“, so sprach es oft zu mir. Und ich konnte dann aussuchen. Im Kleinen immer, was das Große betraf, war es wohl und mitunter offenkundig schwieriger. Aber das habe ich seinerzeit nicht hinterfragt. Vielleicht aus Naivität.

Ich haderte nicht. So ging es.

Eine fallende Mauer kann eine blockierte Weiche sein. Für mich gab es, als die Mauer fiel, gefühlt zum ersten Mal in meinem Leben, kein „oder“. Um aus meinem Kinder- und Jugendland ins Erwachsenenland zu gelangen, musste ich  in eine anderes, für mich vollkommen neues Land gehen. Anders gesagt:

Ich wurde gegangen, gemeinsam mit rund 16 Millionen anderen Menschen, von denen die meisten darüber jubelten. Nicht zuletzt, weil es von dem für uns neuen Land hieß, dass es nahezu unbegrenzte Freiheit böte, so viele Alternativen aufzeige und erreichbar mache, dass man stets ein „oder“ finden könne oder sogar mehrere.

Eine Zeit lang vertraute ich darauf und nahm tatsächlich ein Stück Befreiung wahr. Vor allem mein Geist durfte freier sein und solange ich ein junger Erwachsener war, im neuen Land, wurde ich gewahr, dass es tatsächlich ein Mehr an Möglichkeiten gab, auch ohne großen Einfluss oder großes Geld.

Später fand ich freilich, dass es für Menschen ohne Beziehungen und viel Geld, letztlich weit weniger „oder“  gab und gibt, als die Marktschreier aus Wirtschaft und Politik im „neuen“ Land glauben machen wollten und wollen.

Allmählich wird das Land, in dem ich nun lebe, mein Altersland.  Je mehr es das wird, um so mehr empfinde ich, dass es für mich immer weniger Alternativen und Entscheidungsmöglichkeiten gibt. Beruflich, gesellschaftlich, gesundheitlich, die Gestaltung des Lebens betreffend, auch das private.

Das Leben stellt keine Weichen mehr, es entfernt sich mehr und mehr von dem anderer Menschen, selbst vielen derer, die einem am nächsten waren oder noch sind. Und der eigene Weg hält auch kaum noch welche bereit. Anstelle eines „oder“ findet sich mehr und mehr Faktisches, Unabänderliches.

Nicht mehr weit, und die Strecke des eigenen Lebens wird nurmehr eine eingleisige sein. Keine Weiche mehr bis zum letzten Abschnitt, den man dann schließlich allein bestreiten muss und wird bis zum Halt in einem Sackbahnhof. Kein „weiter“ mehr und kein „zurück“. Und schon gar kein „oder“.

*

Die sanfte Musik schickt weiter sanfte Wellen. Solange ich sie auf meinem einsamer werdenden Weg zu spüren und zu hören vermag, kann ich noch Zwiesprache halten. Die braucht kein „oder“.

Die braucht nur meinen Traum.

Im Zweifel an einem Lieblingstag, der schon eine Weile her ist.

***

Sarah Klang ist eine Sängerin und Songschreiberin aus Göteborg in Schweden. 1992 geboren, trat sie bereits an der Highschool mit einer Elektronikband auf. Ihre erste Single erschien 2016, das erste Album zwei Jahre später. Die Single „17 Pounds“ stammt vom Album „Virgo“ aus dem Jahr 2021 und erzählt die Geschichte der Folgen einer Trennung. Die Musik ist eine spezielle Variante des Indie-Pop und die Stimme von Sarah Klang ist auch besonders. Alles ist sehr gut anzuhören, wie übrigens noch sehr viele andere Lieder von Sarah Klang:

Sarah Klang – „17 Pounds“

Tagebuchseite -996-

Tagebucheintrag meiner Seele

Dies ist mein erster Eintrag in dein Tagebuch:

Du schlägst die Augen auf. Es ist nicht ganz so dunkel wie an jenen Morgen der Arbeitstage, an denen deine Nacht um fünf Uhr endet und wir beide es kaum schaffen, uns zu erheben und in den Tag zu gehen.

Nach den üblichen Verrichtungen im Bad bereitest du das Frühstück. Das machst du immer. Heute tust du es ein bisschen mehr für mich als sonst. Du weißt, dass das frische Ei an Sonntagen eine besondere Freude für mich ist. Aber unsere Frühstückszeit ist auch heute, am Sonntag, endlich.

Du nimmst mich schon bald wieder mit an deinen Schreibtisch. Wochenendtage sind keine freien Tage für uns, seit du an der Schule arbeitest.

Ich merke, wie schwer du dich tust. Du bist nicht motiviert und für vieles brauchst du weit mehr Zeit, als du es dir vorgestellt hast. Das schwächt die Motivation weiter. Du beginnst, dich über dich zu ärgern, weil es schon wieder viel schleppender vorangeht, du spürst, dass du nicht effektiv arbeitest und wieder einmal nicht anders kannst, als jeden kleinen Arbeitsschritt und sein Ergebnis hundertmal zu hinterfragen und weil du auch immer mal wieder abschweifst. Ich ärgere mich auch über dich. Weil du mir damit Druck machst, von dem ich schon genug habe.

Die kleine Espressopause, die ein zweiter kleiner Freudenhauch werden könnte, wird es nicht, weil von mir schon wieder dieses irrationale, aber sehr starke Gefühl unbestimmter Angst, ja Panik, Besitz ergriffen hat. Ich frage dich, woher das kommt und warum es sich ausgerechnet jetzt steigert, wo wir doch daheim sind und, bis auf den Lärm aus der Wohnung über uns, nichts fürchten müssen.

Du weißt keine Antwort, bist resigniert. Du hast noch nie eine Antwort auf diese Frage gehabt.

Irgendwie machen wir weiter, du und ich. Das Unruhegefühl bleibt unser Begleiter.

Während der nächsten kleinen Pause sehen wir ein bisschen vom Leben der anderen. Von ein paar Menschen auch, die wir mögen. Die Ton- und Bilderfetzen schenken uns Freude, weil sie zeigen, dass diese Leben zumindest ein paar ganz andere Nuancen oder Phasen haben als das unsere, und wir es diesen Menschen gönnen, von Herzen. Zum Beispiel zu tanzen durch Monsunregen mitten in Singapur.

Du unterbrichst die Episode, es ist immer noch genug zu tun. – Eine Mail ploppt auf, es fallen wieder mehr Kolleginnen und Kollegen aus nächste Woche. Du liest nicht weiter, aber es hat schon genügt: Mir geht für einen kleinen Moment die Kontrolle über das Angstgefühl verloren.

Nach dem Mittagessen, die nächste Schicht. Die letzte. Dir fällt noch so viel ein, was neben dem eigentlich „Routinierten“ noch vorzubereiten, zu recherchieren, zu erstellen ist. Und du gehst es an.  Die Zeit, die wir nicht haben, fliegt dahin. Paradox, wie etwas, was so zäh ist, letztlich dahingeflogen sein kann.

Wochenendzeit, die keine ist, im Rückspiegel.

Es reicht noch für einen Lieblingstee und ein kleines Stück Stollen. Als du davon isst, werde ich noch schwermütiger als ich es in diesen Wochen ohnehin schon bin. Der Geschmack ist Advent, ist Weihnachten – so wie sie früher einmal waren.

Die Wochenendzeitung liegt ungelesen, der begonnene Roman jenes Schriftstellers, den du so magst, ist wieder unberührt geblieben, die Luft draußen haben andere Menschen eingeatmet. Du hast immerhin ein wenig mehr gesprochen als an jenen Wochenenden, an denen du tatsächlich nur meine Gesellschaft hast. Aber du durftest und solltest nicht alles sagen.

Ich bin dafür da, alles zu hören, alles zu verarbeiten. Mit dir bestenfalls. Begreif‘ das doch endlich!

Es ist Abend geworden. Die Tasche ist gepackt. Sie ist sehr schwer. Die morgen beginnende Woche steckt voller Eventualitäten. Ich spüre deine Ungewissheit, sie macht sich bereit, für die Nacht zu bleiben. Party ist angesagt, mit dem Angstempfinden. Und wie ich sie kenne, feiern sie morgen früh einfach weiter. Ich muss es aushalten, wie immer.

Du hast bemerkt, dass ich gerade besonders intensiv mit mir selbst beschäftigt bin. Aber du vermagst nicht, mich zu beruhigen, denn eben ist dir eingefallen, dass am Donnerstag noch ein „besonderes Event“ ansteht, vor dem wir beide uns am liebsten drücken und verkriechen möchten, aber nicht können.

Wir leben nicht unser eigenes Leben, wir leben auch nicht ein Leben, wie es andere Menschen leben.

Leben heißt agieren.

Wir reagieren nur noch und haben vollauf damit zu tun, und damit, dabei zu versuchen, uns zu erhalten, nicht verloren zu gehen, uns nicht zu verlieren. An Wochenenden wie im Alltag.

Das ist zu unserer Lebensleistung geworden. An jedem Tag. Schwer erkämpft.

Nachrichten dringen an unsere Ohren. Jetzt, wie an jedem Tag. Nachrichten, die nichts besser machen. Jetzt nicht und an keinem Tag. Wir müssen sie hören, müssen sie lesen, weil sie allgegenwärtig sind und weil sie die Welt beschreiben. Und weil unsere Empfindsamkeit keine Barrieren kennt.

Ich wünsche dir eine gute Nacht und verspreche dir, morgen früh, wenn es um fünf sein wird, wieder alles zu geben, damit wir es schaffen … erst einmal wieder aufzustehen, den Bus zu erreichen und weiter zu funktionieren, irgendwie …

***

Das niederländische Paar Danique van Kesteren und Bart van Dalen, welches sich hinter „Donna Blue“ verbirgt, spielt Indie-Pop der besonderen Art. Seine Musik erinnert an Nancy & Lee, Serge Gainsbourg und Julee Cruise – lässt sich aber auch von Filmkomponisten wie Ennio Morricone, Piero Piccioni und John Barry inspirieren. Es bietet ein bisschen Flucht aus dem Alltäglichen …

Donna Blue – „Inbetween“

Tagebuchseite -995-

Heller wird es nicht mehr

Vieles ist anders. Nichts ist wirklich gut. Dieses Jahr, vor allem der andauernde Herbst und der nahende meteorologische Winter, liegen zusätzlich besonders schwer auf meinem Gemüt. Je länger mein Vater nicht mehr da ist, umso mehr und auf besondere Art spürbar werdender fehlt er mir.

Nie habe ich abgesehen von meiner Arbeit weniger soziale Kontakte gehabt als in den vergangenen Monaten. Nie habe ich weniger telefoniert. Nie bin ich weniger verreist (im Grunde gar nicht), nie habe ich weniger freie Zeit zur Verfügung gehabt, nie war ich an Wochenenden öfter allein, nie habe ich weniger geschrieben. Und zu lesen schaffe ich es auch kaum. Nur allzu sporadisch und mit großen Unterbrechungen gelingt es mir, in Bücherwelten zu verweilen.

Die große Welt stimmt nicht mehr und die kleine auch nicht, weder die auf der Arbeit, noch die im privaten.

Ich boykottiere die Fußball-Weltmeisterschaft. Ich schaue mir kein einziges Spiel an. Das fällt mir nicht leicht, weil ich an sich Fußballspiele sehr gern ansehe. Die großen Turniere habe ich immer besonders gemocht

Ich müsste noch vieles mehr boykottieren, stehen lassen, mich nicht mehr damit auseinandersetzen. Ich müsste gehen, von allem und aus allem.

Aber so einfach ist das nicht und es wäre auch keine Lösung. Es wäre das Ende. Mein Ende.

Morgens früh um fünf ersetzt das dunkle Grau meiner Zeit das Schwarz der Nacht. Ein Schaudern ist dabei und eine unglaubliche Überwindung, die schon so viel Energie kostet, dass der Rest nicht bis zum Abend reichen kann.

Heller wird es den ganzen Tag nicht. Manchmal irrlichtert ein Kinderlachen durch meinen so klein gewordenen Orbit, in dem ich mich vornehmlich um mich selbst drehe. Dann kann ich ein bisschen lächeln.

Sonst habe ich vollständig damit zu tun, all das, was von außen auf mich einströmt, aufzunehmen, zu verarbeiten und darauf zu reagieren, wenn es nötig ist oder von mir gefordert wird.

Es ist wie es schon immer war: Ich sehe, höre, rieche, schmecke, fühle ALLES! Das kostet mich Kraft, die ich nicht mehr habe. Meine Art zu empfinden, ist schon immer so gewesen, ich vermag sie nicht zu ändern. Sie ist ich. Ich bin sie. Da ist nichts zu therapieren.. Ich musste immer damit leben und ich muss es weiterhin. Solange ich denn kann. Oder will. Manchmal zweifle ich, ob ich noch will.

Und manchmal spüre ich, dass meine Seele mich streicheln möchte. Dann weine ich nach innen. Obwohl sie krank ist, denkt sie an mich, will mir wohl helfen. Tun, was niemand sonst tut. Und mich verstehen. Mich beschützen. Vor den Hamsterrädern da draußen und vor mir.

So lebe ich in mir und mit mir. Draußen existiere ich. Als Maske von mir, als Klon meines schmerzenden Körpers. Ich selbst bin eigentlich gar nicht mehr da, da wo alle sind. Aber alles trifft mich, was von dort kommt. Unvermittelt. Weil die Maske nicht schützt.

Vieles ist anders. Nichts ist wirklich gut.

Morgen früh um fünf ersetzt das dunkle Grau wieder das Schwarz der Nacht.

Heller wird es nicht mehr.

***

Es ist schon ziemlich lange her, seit ich hier ein Lied von Weyes Blood geteilt habe. Hinter diesem Künstlernamen, der auf den Roman „Wise Blood“ -“ Weisheit des Blutes“ von der jung verstorbenen amerikanischen Schriftstellerin Flannery O’Connor zurückgeht, verbirgt sich Natalie Mering, eine im Juni 1988 in den USA geborene Indie-Folk-Musikerin.

Für mich ist sie eine besondere Künstlerin. Ich mag die Art ihrer Lieder, die Arrangements und vor allem die einzigartige und wunderschöne Gesangsstimme. Lieder von Weyes Blood nehmen mich immer mit auf eine Reise in Welten, die mir vertraut erscheinen und ein Stückchen Frieden schenken.

So auch „Grapevine“, eine Auskopplung aus ihrem jüngsten, gerade erst veröffentlichten neuen Album:

Weyes Blood – „Grapevine“

Tagebuchseite -994-

(K)eine einfache Frage

Tausendmal wird sie in jeder Minute gestellt. Womöglich ist sie die am meisten gestellte Frage überhaupt.

Sie ist kommt offenbar für viele Menschen inzwischen so alltäglich daher, dass sie in manchen Landen gar nicht mehr wirklich beantwortet wird, weil der Fragesteller sie eher wie eine Begrüßungsfloskel gebraucht und also auch gar keine ausdrückliche Antwort erwartet.

Wie oft ich sie schon gestellt bekommen habe, vermag ich beim besten Willen nicht zu sagen, nicht einmal zu schätzen. Aber sie ist für mich nie eine alltägliche Frage gewesen oder gar geworden. Ganz im Gegenteil. Für mich ist sie eine sehr komplexe Frage und so höre ich sie niemals als Floskel und gebrauche sie auch keinesfalls als solche. Wem ich sie stelle, von dem möchte ich eine Antwort auf sie wissen. Mich interessiert die Antwort und ich bin bereit in Kauf zu nehmen, dass diese Antwort keine kurze, leichte, einfache, simple ist.

Wenn mir die Frage gestellt worden ist, war es zumeist schon immer eine Herausforderung für mich, sie zu beantworten. Deshalb, weil ich bestrebt bin, jede an mich gerichtete Frage ehrlich und nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Mit den Jahren ist mir das immer schwerer gefallen und nunmehr fürchte ich die Frage sogar, wünsche mir, dass sie mir möglichst gar nicht mehr gestellt wird.

Die Frage lautet: Wie geht es dir?

Was erwartet der-  oder diejenige, der/die sie mir stellt? Das ist jedes Mal mein erster Gedanke. Und der nächste, dass es unmöglich ist, diese Frage nicht zu beantworten oder sie einfach zu ignorieren, selbst dann nicht, wenn der Fragesteller sie nur als Floskel formuliert hat, im Zweifel, um irgendwie irgendein Gespräch zu beginnen.

Aber was für eine Antwort kann, soll, muss ich geben?

Die Wahrheit ließe sich nicht einfach mit ein paar Worten formulieren. Aber wer würde sich gleich mehrere Sätze anhören wollen auf die kurze Frage?  Und wer würde die Wahrheit als solche hören wollen, wenn sie doch eine schwierige ist, eine, die nicht zu erfreuen, zu ermutigen, zu bestätigen vermag?

Was macht man mit einer Wahrheit, die zumindest in sich eine Zumutung für Dritte trägt und mich, der sie aufrichtig aussprechen würde, zudem dem Risiko mehr oder weniger verletzt zu werden, aussetzt?

Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir, dass ich schon lange nicht mehr mit „gut“ auf die Frage antworten kann, ohne die Unwahrheit zu sagen, zu verleugnen, was wirklich ist. „Gut“ geht es mir noch im Kontext von kleinen Momentaufnahmen, Episoden, Wimpernschlägen meines Daseins, aber selbst darin, ist es häufig auch allenfalls nur relativ.

Will das jemand wissen, der mir diese einfache Frage stellt? Will das überhaupt jemand wissen? Will es gar irgendwer wiederholt anhören, vernehmen und damit fortan in den eigenen Tag gehen müssen?

Ich kann mir das nicht vorstellen.

Die meisten Menschen mögen keine komplexen Fragestellungen und noch weniger komplexe Antworten. Sie mögen sie noch weniger, seit die Welt ist, wie sie heute ist und immer noch mehr wird: kompliziert, voller Ungerechtigkeit, beherrscht von Mächten, die im Mindesten unbeeinflussbar scheinen.

Nichts ist da weniger populär, als auch noch auf persönlichen oder gar privaten Ebenen Kompliziertes, Schwieriges, Belastendes, hören, aufnehmen oder sich womöglich sogar damit auseinandersetzen zu sollen und obendrein der Gefahr zu unterliegen, doch nichts bewirken, bewegen, verändern zu können.

Ich sehe das alles, kann es nachvollziehen, verstehen.

Und weiß also immer weniger, was ich mit dieser Frage anfangen, wie ich auf sie reagieren soll, die ich mittlerweile wirklich fürchte:

„Wie geht es dir?“

***

Freedom Fry sind in Los Angeles zu Hause. In der Indie-Pop-Band haben sich zwei Menschen zusammengefunden, die in Paris geborene Sängerin, Songschreiberin und Produzentin Marie Sayrat und Bruce Driscoll aus den USA, der ebenfalls Songs schreibt, produziert und Gitarre spielt und im ersten Teil seiner Musikkarriere mit seiner Schwester Songs selbst vermarktet hat. 2011 erschien ihre erste Single, der viele weitere Veröffentlichungen folgten, darunter auch eine Covertitel bekannter Künstler wie Britney Spears, Elton John, Styx usw. – Ihr neuestes eigenes Stück ist das melodisch und textlich sehr ansprechende Lied hier:

Freedom Fry – „True to Ourselves“

Tagebuchseite -993-

Stumme Tage

Es ist dies einer jener Tage, an denen ich ganz stumm bin. Niemand ist da, mit dem ich auch nur ein Wort wechseln könnte. In meinem Leben hat es immer mal wieder solche Tage gegeben, mitunter sogar mehrere, direkt aufeinander folgende. Zumeist Wochenendtage.

Meine Alltage waren und sind immer Tage mit Menschen. Keineswegs immer solchen, für die ich Sympathien hege. Und so waren und sind Gespräche während meiner Alltage durchaus nicht immer angenehm oder gar erquicklich. Aber sie ließen und lassen mich immerhin meine Stimme hören.

An den diversen Wochenenden und manchen sonstigen freien Tagen vernehme ich meine Stimme nicht. Ich spreche dann nach innen, mit mir selbst oder mit Menschen, die in meinem Herzen wohnen. Ich stelle mir vor, was sie mir antworten, welche Fragen sie mir stellen, wovon sie berichten oder erzählen würden. Mein Vater ist so ein Mensch. Da er nicht mehr am Leben ist, habe ich gar keine andere Möglichkeit mehr, mich mit ihm zu unterhalten und auszutauschen als diese. Und so bin ich dankbar dafür.

Ein wenig kann ich die Stille meiner stummen Tage sogar genießen. Ich mag es ja nicht so laut und wenn meine Wohnumgebung rücksichtsvolle Zeiten hat, dann komme ich manchmal sogar innerlich ein wenig zur Ruhe.

Gerade aber bin ich oft auch sehr unzufrieden mit meinen stummen Tagen. Ich verliere sehr häufig jeden Antrieb während dieser Zeiten. Und im Nachgang ärgere ich mich sehr darüber. Aber es ist besonders schwer für mich, allein progressiv aktiv zu sein. Es fühlt sich skurril, erzwungen an und es macht das Dilemma des Stummseins, des stumm sein Müssens, noch mehr bewusst.

Ich schaue durch mein Fenster zu den Wolken hinauf. Sie weisen den Weg bis so weit empor, wo es immer still und stumm ist, wo Zeit und Raum dimensionslos werden. Das hat mich schon immer fasziniert, war und ist aber zugleich immer mit einem Angstgefühl verbunden. Ähnlich dem, dass ich immer auch dann verspüre, wenn, wie an diesem Tag, meine Stimme keine Dimension benötigt.

Wenn ich ein wenig Futter unter das Balkongeländer streue, besucht mich eine Schar Spatzen. Sie sind mir sehr liebe Gesellen, denn ich kann ihnen überall begegnen, sie sind wahre und so treue Begleiter. Meine innere Stimme führt immer einen kleinen Dialog mit ihnen.

Und auf dem Fensterbrett meines Zimmers bin ich eines Marienkäfers gewahr geworden. Ich weiß nicht, wie lange er schon in meinem Zimmer ist, aber er wirkt irgendwie schwach. Nachdem ich einen  Tropfen Honig ganz in seine Nähe geträufelt habe, hat er sich dorthin bewegt und nascht nun davon. In meinem Inneren spreche ich ihm zu und wünsche mir, dass er sich mithilfe der kleinen Speise erholt.

Ich denke an meinen Vater, der meine kleinen alljährlichen „Marienkäferrettungsaktionen“ immer mit wirklichem Interesse, Mitgefühl und Verständnis begleitet hat. – Wenn es so still ist, wenn ich stumm bleiben muss, werden mir unsere Seelenverwandtschaft und die Tatsache, dass sie niemals vergehen wird, immer besonders bewusst.

So wenig mir letztlich oft bleibt, so sehr kostbar ist manches davon.

Noch einmal sehe ich aus dem Fenster nach draußen. Der Kondensstreifen eines Flugzeugs zieht seine Bahn. Es wird irgendwo landen, wo Leben ist, vielleicht da, wo einige der Menschen, die ich im Herzen trage, gerade sind. Und leben und reden und hoffentlich glücklich sind.

Das ist immer mein größter Wunsch. Am allergrößten ist er an Tagen wie jenem heute, an dem ich stumm bin.

***

Vanessa Dulhofer stammt aus Niederösterreich. Sie ist ganze 16 Jahre jung, und das Lied, das ich heute hier teile, ist ihre erste eigene Single. Sie hat eine markante, besonders gefühlvolle Stimme und sie ist eine mutige junge Frau. Im Kontext mit einem wenig respektvollen Interview hat sie sich quasi bei ihrem ersten Schritt in die Öffentlichkeit als homosexuell geoutet und prompt nicht nur unterstützende, sondern auch viele Hasskommentare bekommen. Ich finde es ebenso stark wie berührend, wie sie dessen ungeachtet ihren Weg weiter geht. –

Es gibt inzwischen mehrere Lieder von Ness, wie sie sich als Künstlerin nennt, durchweg sehr bemerkenswerte und aussagekräftige Stücke mit besonderen Texten. Ich werde sicher noch das eine oder andere davon hier vorstellen. Für heute soll es aber ihre Debütsingle sein:

Ness – „Deine Richtung“

Tagebuchseite -992-

Wenn es drinnen November ist

Heute ist so ein Tag, an dem ich nicht schreiben sollte. Diese Tage werden immer zahlreicher, was mein Tagebuch deutlich dokumentiert: Die monatlichen Einträge sind zahlenmäßig immer weiter zurückgegangen, vor knapp zwei Jahren hat diese Tendenz begonnen.

Das liegt nicht so sehr daran, dass ich nichts zu schreiben hätte oder wüsste. Es liegt daran, dass ich kaum noch frei bin, nicht in meinem kleinen Umfeld und nicht im großen. Die Welt wird mir immer fremder und ich meinerseits entfremde mich offensichtlich auch fortlaufend mehr und mehr. Gefühlt bewege ich mich in einem Kreis innerhalb einer Mauer, die mich umgibt und die, von innen wie von außen betrachtet, immer höher wird.

Ich bin vollkommen ausgelastet damit, mich Erfordernissen und Zwängen zu stellen, dazu gehören auch solche, die meine Seele sind.

Kürzlich habe ich mit den Kindern der 5. und 6. Klasse eine Philosophiestunde zum Thema „Gewissen“ gehabt. Es war eine sehr interessante Stunde. Dennoch hat sie mir im Nachhinein nicht gutgetan. Gar nicht gut.

Ich fühle mich ob meines Gewissens wie ein Außenseiter. Und obwohl ich mein Gewissen nach wie vor sehr schätze, weiß ich, dass es die Ursache ist für mein Einsam sein. Ich kann mir die Welt nicht bauen, wie mein Gewissen es sich wünscht. Und so wie sie ist, vermag ich sie immer weniger anzunehmen. Mehr noch: Ich beginne immer stärker daran zu zweifeln, dass andere Menschen (von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen) auch ein wirkliches Gewissen haben.

Das liest sich wahrscheinlich unglaublich arrogant …

*

Vor wenigen Tagen habe ich einen neuen Fernseher aussuchen müssen für mich und dem, was von meiner Familie noch so übrig ist. Ich habe mich schon Tage vorher darüber geärgert, denn der alte tat tadellos seinen Dienst. Allerdings handelt es sich bei ihm um einen SD-Fernseher, mit dem sich keine HD-Programme empfangen lassen. Und nun ist geschehen, was mich schließlich gezwungen hat, einen neuen zu kaufen: Nach und nach wurden und werden die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme im SD-Format einfach abgeschaltet.

Im Fachmarkt habe ich dann nach zwei, drei Geräten gefragt, zu denen ich mich zuvor ein bisschen informiert hatte. Es handelte sich um keine besonderen Fernseher, nicht besonders groß und auch längst nicht mit allen heute möglichen Funktionen ausgestattet.

Hier im Fachmarkt (der Verkäufer war ansonsten recht nett) wie auch dort, wo ich sonst noch Andeutungen über den Kauf eines neuen Fernsehgeräts gemacht hatte, waren die Reaktionen quasi identisch: „Was, du hast bis heute nie einen HD-Fernseher gehabt?“  „Oh Mann, über 10 Jahre hat dein alter schon auf dem Buckel – und so klein war der?“ „Wieso kaufst du dir jetzt keinen größeren?“ „Die Art, die du kaufen willst, ist nur so eine Art Beiwerk zu den wirklich guten, das ist doch höchstens ein Zweitgerät!“ „Mensch, in der Zeit hatte ich schon drei Fernseher …“

Wie oft habe ich schon solche und ähnliche Reden gehört?!

Dann, wenn Thema wird, dass ich mein letztes Mobiltelefon 12 Jahre hatte, und das aktuelle auch schon wieder fast 6 Jahre bei mir trage, dass ich immer noch kein Smartphone habe (Letztens ist mir sogar eins geschenkt worden, gebraucht freilich, der Akku hält kaum einen Tag. Ich habe es schließlich, bedrängt, wie ich wurde, genommen, obwohl ich denke, dass ich es möglicherweise nie benutzen werde.)

Ein anderes Mal ist meine Uraltarmbanduhr (ich trage sie seit 39 Jahren!) Gegenstand des allgemeinen Unverständnisses. Und ganz schlimm wird es, wenn ich bei „Trendgesprächen“ zur neuen Dekoration von Wohnungseinrichtungen, dem Übergang zu einem neuen Stil, bei Geschirr, Kleidung und anderem, nicht mitreden kann und mag oder gar äußere, dass ich Dinge grundsätzlich so lange benutze, trage und pflege, wie sie funktionsfähig sind.

Ich meine, dass ich mit meiner entsprechenden Einstellung wenigstens einen kleinen Beitrag leisten kann, der Wegwerf- und Konsummentalität ein bisschen weniger Vorschub zu verschaffen. Ich weiß, dass das nicht viel, nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein, ist. Aber meine Einstellung kommt tief aus meinem Inneren, meinem Gewissen.

Und da bin ich an dem Punkt: Ich höre so viele Menschen, die in Gesprächen Einstellungen, wie der meinen, beipflichten, sie „toll“ finden und meist noch behaupten, sich selbstverständlich selbst entsprechend zu engagieren. – Aber ich sehe kaum jemanden, der sich dann auch wirklich so verhält. Vielmehr nehme ich wahr, dass ich schließlich doch das werde, das bin, was ich mehr und mehr fühle: ein Außenseiter.

Das betrifft nun keineswegs nur den hier skizzierten Teilbereich des Lebens. Vielmehr ist es so, dass ich mehr und mehr wahrnehme und empfinde, dass mein Gewissen generell nicht (mehr) gesellschaftsfähig ist.

Meine Maximen und Ansichten von Werten, von Moral, von Aufrichtigkeit und etlichem mehr sind Einzelmeinungen. Und sie sind nicht mehrheitsfähig, nicht im gesellschaftlichen und auch nicht im familiären Umfeld. Der letzte Mensch, der mich in letzterem verstanden hat, war mein Vater.

*

Die Welt zieht an mir vorüber, während ich in ihr lebe, vor allem die Menschen ziehen vorüber. Die vielen, die wohl ein so ganz anderes Gewissen haben.

Meine Ängste werden wieder stärker, sind sehr stark und sehr permanent. Mit jeder Nachricht, die ich höre, mit jeder Episode, die mich spüren lässt, dass ich anders (geworden) bin, dass ich nicht dazugehöre.

Heute ist so ein Tag, wo ich meine Angst ganz besonders intensiv und heftig spüre – so ein Tag, an dem ich nicht hätte schreiben sollen.

Und zu allem Überfluss ist jetzt auch draußen November geworden …

***

 Jess Williams ist eine US-amerikanische Sängerin und Songschreiberin. Musik zu schreiben begann sie während ihres Studiums in Austin (Texas). 2014 erschien ihr erstes Album. Gemeinsam mit dem US-Sänger Meg Duffy (Pseudonym Hand Habit), der auch ein ausgezeichneter Gitarrenspieler ist, hat sie sich für das Lied, das ich hier heute teile (es ist eine 2020 erschienene Single), zusammengetan. Es ist ein Lied wie eine Sehnsucht, erinnert mich ein bisschen an die wunderbaren Songs von „Mazzy Star“ mit Hope Sandoval, und verkörpert schönsten, ein wenig melancholischen Indie-Pop:

Jess Williamson feat. Hand Habit – „Pictures of Flowers“