Tagebuchseite -1036-

Gedanken an einen Ausflug vorige Woche: „Einfach so“

Die Erde wird sich weiter drehen, solange sie denn kann. Ob ich da bin oder nicht, ist dafür unerheblich. Mein wochenlang schweigendes Telefon ist ein Indiz dafür und für so manches mehr, was ich einzusehen habe …

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Auf der Bank, auf der ich mich niedergelassen hatte, um so über den schönen See zu sehen, wie ich das in für mich dunkler Zeit tat, als ich schon einmal hier war, streifte mich der Wind. Ich versuchte Gedanken zu erraten, die er vielleicht gerade zu mir tragen wollte. Immerhin habe ich einige noch erhoffen können.

Diese Hoffnung ließ ich fortan meine Begleiterin sein. Es war gut, dass sich die Stimmen einiger Vögel, ein paar erste wilde Frühlingsblüten, das leise Plätschern der kleinen Wellen des Sees, die über den Boden schwebende Hummel und die ersten Nektar aus einer Blüte sammelnde Biene dazu gesellten, denn sie schafften es tatsächlich, die Stimme meiner Schmerzen für eine Weile wegzulächeln.

Ich sah in den Himmel, ließ meine Blicke den ziehenden Wolken folgen, bemerkte extravagant ineinander verschlungene Geäste und staunte über die Dauer von Zeit und Weg, die ein Haubentaucher unter Wasser zu verbringen bzw. zurückzulegen vermochte.

Das schönste Geschenk ist eins wie dieses, nicht vorbestimmt, nicht geplant, nicht von diesem oder jenem, sondern einfach geschehen. Und es sollte nicht das letzte sein an diesem Tag.

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Wenn eine Sehnsucht kein Ziel findet, kann das dazu führen, dass man an Orte gelangt, an die man normalerweise nie gekommen wäre. Orte, an die man nicht gehört, skurril, fremd, bizarr und die einen deshalb ein verstört Sein spüren lassen. Letztlich macht dieses Empfinden aber nur deutlich, wie verzweifelt die Sehnsucht ist. Je verstörter und verstörender es ist, desto größer ist wohl der Grad der Verzweiflung.

Dass der See schon einmal Zeuge einer für mich dunklen Zeit gewesen ist, habe ich in guter, angenehmer Erinnerung behalten. Trotzdem hat es mehr als neun Jahre gebraucht, bis ich wieder zu ihm gehen konnte. Und, ja, ich habe nun viel nachdenken müssen, alte Bilder und neue zogen durch meine Seele, Bilder die, merkwürdig einschüchternd, eng verwandt miteinander sind.

Ich kenne mich jetzt besser als damals, weiß mich und in mir genauer zu lesen. Verabscheue mich nicht mehr ganz so sehr, bin für vermeintlich Kleines oder Unscheinbares noch dankbarer als ehemals. Sogar dann, wenn ich es an jenen skurrilen, fremden, bizarren Orten finde.

Die Orte werden deshalb keine besseren, meine Verunsicherung nicht weniger und mir wird auf eine Weise bewusst, wie das noch nie zuvor geschehen ist, dass es nicht immer gut ist, sich umfassender zu erkennen, mehr über sich zu wissen und immer noch mehr über sich zu erfahren.

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Während ich weiter ging, bis in die Stadt hinein, begann mein linker Fuß mehr und mehr zu schmerzen, wie er das seit Monaten tut, ohne dass ich dem Abhilfe schaffen kann. Ich wählte den Weg hin zu jener Seite, die mich als kleinen Jungen am meisten gesehen hat. Immer, wenn ich heute dort bin, wird die Sehnsucht besonders stark, der Status meines heutigen Ich besonders präsent. Ambivalent, nicht angenehm. So, dass ich ihn, dass ich mich, wegwischen möchte.

Ich entdeckte jenes Fachwerkgebäude wieder, neben dem sich ehemals ein Bäcker mit einfachen aber fantastischen Salzbrötchen befunden hatte. Für einen Moment hatte ich ihren Duft und ihren Geschmack in meinen Sinnen. Vor dem Gebäude, das heute unter anderem ein Museum beherbergt, in dem neben einer Dauerpräsentation auch wechselnde saisonale bzw. Wanderausstellungen gezeigt werden, lud mich ein Plakat zu „Fotografie und Lyrik“ ein.

Nach meiner Wanderung am See entlang in die Stadt hinein hätte mir, wie sich herausstellte, nichts Besseres passieren können. – Ich unternahm eine Reise durch verschiedene Naturlandschaften, eindrucksvoll, mit besonderer Technik fotografiert und in Szene gesetzt, begleitet von sie beschreibenden und in interessante Kontexte setzenden Versen von spezifischer Klarheit und Schönheit.

Was am Vormittag, die plätschernden Wellen des Sees, das leise Summen der ersten Biene und das Vogelgezwitscher gewesen waren, waren nun die wunderbaren Sprachen der Künste der beiden Frauen, die ihr gemeinsames Werk hier ausgestellt hatten. Am liebsten hätte ich einige der Bilder und Verse wahrhaftig mit mir genommen. –

Aber ich bin froh, dass mir das besondere Erreichen meiner Seele, meines Wesens als Erinnerung verbleiben wird als das zweite Geschenk dieses Tages, das einfach so geschah.

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Die Erde wird sich weiter drehen, solange sie denn kann. Ob ich da bin oder nicht, ist dafür unerheblich.

Sie dreht sich. Einfach so …

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Brödet ist eine fünfköpfige schwedische Band aus Stockholm. Sie verfolgt einen besonderen Stil des Indie-Pops, der vor allem viele elektronische Elemente enthält, dessen Stücke überwiegend in langsamem Tempo daherkommen und von der schönen Stimme der Sängerin Stella Cartrier untermalt und getragen werden. Viel mehr erfahren konnte ich über die Gruppe, die außerhalb ihres Landes aber wohl trotz mehrjährigen Schaffens kaum bekannt ist, leider nicht. Ihre Musik gefällt mir freilich sehr, unter anderem dieser Track hier:

Brödet – „Until the Morning“

2 Gedanken zu “Tagebuchseite -1036-

    • Dankeschön für Dein „Extrazeichen“ – Das ist sehr lieb von Dir, Anna, und hat mich wirklich gefreut.

      Liebste Grüße an Dich – ich hoffe, dass es Dir gut geht und Dir der Stress nicht zu sehr zusetzt. ✨🌷💚

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