Tagebuchseite -1037-

Kirschblütenlindgründunkel

Ich kann mich an kein Frühjahr hier in der Region erinnern, in dem schon Anfang April die Bäume ihr junges Laub auszutreiben begonnen und sich nahezu gleichzeitig bereits die meisten Obstblüten zu voller Pracht entfaltet gehabt hätten. Heuer scheint die Natur in allem fast vier Wochen voraus zu sein.

Immer ist es so gewesen, dass mich nach den grauen Herbst- und Wintertagen das Frühlingserwachen besonders berührt und wahrhaft in mich hinein gestrahlt und gezwitschert ist. Ich konnte Wärme, Klang und Helligkeit erspüren, selbst, wenn das mitunter wie durch einen Schleier geschah und bei aller bleibenden Last und Mühsal, konnte ich ein wenig dahingleiten mich bescheinen und streicheln lassen von junger Sonne und jungem Wind und es wurde ein wenig Licht in mir …

Es geschehen Dinge, die machen alles anders. Dinge, wie sie mir jetzt geschehen. Sie werfen alles durcheinander. Nichts hat mehr seinen Platz, Schönes verliert seine Rolle. Ich sehe all das Blühen und Ergrünen, es ist auch eine leise Freude darüber in mir, aber es wird kein Licht in meiner Seele.

Da ist etwas, über das ich fatalerweise nicht so schreiben kann, wie ich es wollte, wenn ich es könnte. Nicht in diesem Tagebuch hier. Es ist skurril, es ist bizarr, es lässt mich überhaupt keine Ruhe mehr finden. Ich bin orientierungslos, hilflos, werde von einer Gefühlswallung in die nächste geworfen.

Es gab dafür einen „Auslöser“, knapp eine Woche ist das jetzt her. Schon der diesen Auslöser begründende Anruf warf mich gleich irgendwie aus der Bahn. Dabei ahnte ich seinerzeit noch nicht einmal ansatzweise, was dann erst geschehen und was für einem Gefühlswirbel ich ausgesetzt sein und bleiben würde.

Der mir am nächsten stehende Mensch trauert. Trauert, wie ich es noch nie bei ihm erlebt habe. So bebend, so ergreifend, so intensiv. Er hat einen anderen Menschen verloren, abrupt, unmittelbar, heftig. Und verliert an Kraft, ist vollkommen durcheinander, immer wieder in Tränen gebadet, nahezu jeder Anlass ist geeignet, sie immer wieder zum Fließen zu bringen.

Mich rührt das an, so sehr. Und in mir ruft es: Tröste, versuche es wenigstens! Und es wäre an sich doch das Normalste, das Selbstverständlichste, Trost zu spenden, die Arme zu öffnen und Einlass zu gewähren. Ich weiß es selbst so sehr, wie schlimm, wie schwer Trauer sein kann.

Aber ich bin so zerrissen, weil es so paradox ist, diese Trauer zu teilen.

Denn sie gilt jenem Menschen, der über Jahre an meine Stelle treten durfte und darüber hinaus, an jedem Abend, an vielen Wochenenden das geben durfte, was ich nicht (mehr) konnte oder vermochte. Ich hingegen war während all dieser Zeiten allein, meiner Unvollkommenheit, meines Versagens so sehr und so permanent bewusst gemacht, dass dieses Bewusstsein zu einem immerwährenden, schwelenden Schmerz geworden ist, den ich wohl nie mehr loswerde.

Jeder Tag der Intensität der Trauer des mir am nächsten stehenden Menschen macht diesen Schmerz nur noch stärker. Es ist so furchtbar, als wenn da ein „Neid“ in mir wäre, dass einst die Trauer über mein Fortbleiben allenfalls ein Abglanz derjenigen sein könnte, die ich jetzt erleben muss und die jenem Menschen gilt, der mich ersetzt hat.

Es ekelt mich an, dass so eine Empfindungssequenz in mir lebt. Und es scheint so, als ob genau sie meinen schwarzen Hund so sehr nährt, dass all das Kirschblütenlindgrün des Frühlings kein Licht in mir zum Leuchten bringen kann. Es ist, es bleibt nur als Kirschblütenlindgründunkel da. Und ich habe kein Quäntchen mehr Kraft, als jenes, dies wie ein gebrochener Mensch zur Kenntnis zu nehmen.

Weil ich schließlich trotz all dem nicht anders konnte, habe ich vor ein paar Tagen doch meine Arme geöffnet, eingelassen, ein Anlehnen, ein Streicheln zu geben versucht.

Ge- oder verändert hat das nichts, obgleich es doch immer noch viel mehr als ein Reflex gewesen ist, der mich hat handeln lassen, wie ich gehandelt habe. Ich bereue nicht, es getan zu haben, aber letztlich hat auch dieses Tun am Ende nur noch mehr zu meinem Weh beigetragen. Denn es ist, als hätte mich dieses, mein eigenes Tun, deutlicher als nichts anderes all die Jahre spüren lassen, in denen ich meinerseits keine haltenden Arme, kein Anlehnen, gar nichts, mehr bekommen habe. Bis heute.

So gehe ich dahin während dieser Tage, orientierungslos, voller mich vollkommen überwältigender und nicht zu bändigender Gefühle und Empfindungen. Es tut so weh wie nie!

Ich sehe die Tränen, die nicht meine sind, und gehe arbeiten. Ich höre das Weinen und könnte selber schreien und darf und kann es ja doch nicht. Und es würde auch gar nichts „helfen“ oder bewirken.

Draußen ist Frühling und in der Schule lächle ich den Kindern zu.

Ich nehme meinen schwarzen Hund an die Leine. Er ist der einzige, der immer da ist. Und er ist der einzige, dem ich die ganze Geschichte erzählen kann, der einzige, der immer zuhört. Und immerhin lässt er das Kirschblütenlindgründunkel gewähren. Mehr kann ich von ihm nicht erwarten. Mehr kann ich überhaupt nicht erwarten. Und ich erwarte auch nichts mehr.

***

Maple Glider wurde im Mai 1994 in Melbourne (Australien) geboren. Sie ist Sängerin und Songschreiberin und veröffentlichte im Jahr 2021 ihr Debütalbum. Von diesem Album teile ich hier heute ein wundervolles Lied, sparsam, aber sehr schön arrangiert, mit einer sehr eingängigen, feinen Melodie und getragen von der wirklich bezaubernden Stimme der Interpretin. Hier ist:

Maple Glider – „Friend“

9 Gedanken zu “Tagebuchseite -1037-

  1. 🤍

    Das tut mir furchtbar leid. Für den einen Verlust, aber vor allem für dich – so ganz voreingenommen und absolut biased. Ich kann mir kaum ausmalen, wie schwierig diese Position sein muss. Und wie weh es tun muss, Abwesenheit auf so vielen verschiedenen Ebenen alle zum selben Zeitpunkt zu spüren. Die eigene, die fremde. Die vergangene, die präsent. Es ehrt dich, dass ein Instinkt zu trösten, Arme anzubieten, zu umschließen und festzuhalten, nach wie vor existiert. In vielen anderen Menschen gäbe es ihn nicht.

    Aber ich wünsche dir auch, dass du nicht ein allzu strenges Maßband an die eigenen Gefühle anlegst. Wie könnten so große, so laute, so schreckliche Gefühle sich bei einem Menschen mit einem so großen und durchlässigen Herzen wie dir nicht auch in einem eigenen Aufbrausen der Gefühle niederschlagen? Du hast ein Recht auf diese Gefühle. Oder viel mehr, sie haben ein Recht. Zu existieren. Zu stören. Ein Recht beachten und gehört zu werden. Ein Recht, dich auch an deine Grenzen zu erinnern, an die Grenzen, die du setzen musst, damit du dir nicht mehr schadest, als nicht zu verhindern ist. Die trauernde Person kann es momentan nicht, tut es vielleicht auch sonst nicht. Umso wichtiger, dass du dich nicht selbstgeißelst für eine Menschlichkeit, die in dir doch so viel wärmer lacht als in so vielen anderen. Nimm sie dir nicht übel, die Kehrseite all deiner Güte. Sie macht dich nicht defektiv. Sie macht dich zu einem von uns, und du schuldest niemandem utopische Illusionen der Perfektion.

    Aber jetzt halte ich erstmal den Frühling dazu an, sein schönste Aufblühen noch eine Weile länger für dich parat zu haben. Eine stetige Diät natureller Schönheit kann vielleicht nicht alle Wunden heilen, aber als Pflaster, zum täglichen Wechsel, taugt sie doch allemal.

    Ich denke an dich.

    Deine Kira 🤍

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    • Ganz lieben Dank für diese Worte, die so ganz von Dir sind. Danke für die Art der Berührung, die ich dabei spüren durfte. Und Danke überhaupt, dass Du wieder einmal hier warst und gerade jetzt.

      Ich bin sehr durcheinander und nur auf eine sehr merkwürdige Art bei mir, irgendwie kommt immer mehr zusammen …

      Was tust Du gerade, liebe Kira, wo bist Du, was treibt Dich um? Bist Du gesund, hast Du Grund glücklich zu sein? (Das wünsche ich Dir so sehr …) Ich denke unverändert oft an Dich und hatte doch zuletzt manchmal die Befürchtung, Dich nun doch verloren zu haben. (Nicht in meinen Erinnerungen, darin bist Du und wirst Du immer sein.)

      Sehr liebe Grüße! ✨💚

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      • Das kann ich mir gut vorstellen… Ich hoffe, wenn du uns auch nicht davon erzählen kannst / hier nicht so davon erzählen kannst, wie du wollen würdest, dass es jemand gibt, der dir zuhören kann und darf.

        Ich bin ein paar Monate vor meiner nächsten Romanveröffentlichung, das heißt: Ja, doch, ich denke, Grund zum Glücklich Sein habe ich. Nebenbei arbeite ich als Front Office Managerin (Abteilungsleitung: Rezeption) in einem Hotel in Dresden. Gesund bin ich nicht, aber die Erkältung / Grippe / was auch immer es war, ist beinahe durch und darüber hinaus doch, kann ich mich nicht beklagen.
        Ich habe so meine Schwierigkeit, mit dem Ausbalancieren von Arbeit und Freizeit, aber das kennen wir ja schon. Aber vielleicht … vielleicht … finde ich ja ein bisschen Zeit, um mal wirklich was mit dem Blog hier zu machen… schön, fände ich das!

        Liebe Grüße!

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  2. Was für kräftige, berührende Worte. Wieder einmal so geschrieben, dass sie mich genau ins Herz getroffen habe. Und selbst das tat weh. Nun kann ich mir wahrscheinlich, zumindest ein bisschen, vorstellen, wie es dir mit dieser Situation gehen muss. Das tut mir sehr, sehr leid.
    Es tut mir leid, dass du dich so einsam fühlst und all die Jahre einsam gefühlt hast. Dass du das Gefühl hast, ersetzt worden zu sein. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es ein echtes Ersetzen war, aber dennoch muss es sich so angefühlt haben. Und trotz allem hast du dich beiseite gestellt und Trost gespendet. Warst da für diese wichtige Person in deinem Leben. Wenn sie es zugelassen hat, dass du da sein durftest, ein bisschen Trost aufgefangen hast, dann wird deine Position/deine Rolle niemand anderes einnehmen können.

    Ich hoffe, du hast heute trotz allem einen möglichst frühlingshaften, möglichst lichtbringenden Tag. Denn ich weiß ja, welcher Tag heute ist und sende dir nicht nur Glückwünsche, sondern auch ganz liebe Grüße! ❤

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    • Liebsten Dank, liebe Ines. Ich komme erst so spät dazu, zu reagieren. Das tut mir so leid, aber ich kann gerade nicht so richtig …

      Dass Du immer noch weißt, „welcher Tag heute ist“, hat mich sehr freudig berührt – ich hatte es rechtzeitig (!) gelesen …

      Von Herzen liebe Grüße an Dich! ✨💗

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  3. Wenn ich Ines‘ letzten Absatz richtig interpretiere, dann schließe ich mich ihren Glückwünschen gern an 🙂

    Ansonsten…. ich hoffe, es gibt Dir ein wenig Trost, dass Du zumindest in der Form „darüber“ schreiben konntest, in der Du es getan hast.

    Dass Du selbst Trost spendest, obwohl Du auf mehreren ebenen ersetzt worden bist, dokumentiert Deine Großherzigkeit und zeigt auch Deine moralischen/ ethischen Ansprüche an Dich selbst.

    Nur bitte, übersieh nicht, wann es für Dich und Deine Seele zuviel ist, was Du da leistest. Stelle Dein eigenes Seelenheil nicht zu weit hinten an.

    Ich wünsche Dir, dass sich das Frühlingserwachen durch die wieder kalten Tage noch ein wenig hinauszögert und dass sich dieser Gefühlsorkan in Dir ein wenig legen kann wie sich die Stürme legen werden, die draußen gerade durch die Lande ziehen.

    Herzlichste Grüße!

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