Tagebuchseite -1033-

Von der Metapher, die ich geworden bin …

Obwohl der Winter noch gar nicht fortgegangen war, ist er gestern zurückgekommen. Es war unwirtlich windig draußen und der Wind trug unzählige Nieselschneeflocken mit sich, welche sich wie ein weißer Zucker auf dem roten Schindeldach gegenüber niederließen.

Ich weiß wohl, dass das nicht so bleiben wird, der Tag heute hat zwar weiterhin ein tristes Grau, aber der Schnee ist schon wieder verschwunden. Und in ein paar Wochen wird es auch wieder etwas wärmer sein und die ersten leuchtenden Knospen kleiner Frühjahrsblüher, die ich vor wenigen Tagen schon erspähen konnte, werden ihre Blüten weit geöffnet haben und die Vögel werden begonnen haben, ihre Lieder wieder in Gänze und Schönheit erklingen zu lassen.

Darauf freue ich mich. Aber die Sehnsucht danach ist und bleibt eine, die Traurigkeit atmet. Denn das unwirtliche, windige und kalte Grau, ist seit nun schon Monaten die Metapher, die eins geworden ist mit mir. So sehr, dass ich begonnen habe, Trost in ihr zu finden, sie als einen großen Teil meiner Heimat zu akzeptieren. Denn da ist nichts, was verheißt, dass mein schwarzer Begleiter mich bald oder überhaupt noch einmal verlassen wird. Und so versuche ich ihn also anzunehmen.

Ich finde Geborgenheit in traurigen Melodien, weil ich fühle, dass sie mich verstehen. Ich betrete Bilder und Fotos, auf denen es keine Menschen gibt, gehe tief in sie hinein, ihre Natur, und ich höre und sehe ALLES, was sonst niemand hört und hören kann. Und ich umarme die Wiesen, Wasser und Wälder dieser Bilder dafür, dass sie mir dies Erleben, diese Tiefe, schenken.

Eine wundervolle Stimme dringt an mein Ohr. Ich lege mich auf ihren süßen Klang und lasse mich von ihren Schwingungen tragen und bitte darum, dass sie nie aufhören möge, da zu sein, so unerreichbar ihr Ursprung für mich auch ist und bleiben wird.

Der Wunsch nach Geschichten, die von schönen Charakteren, von rücksichtsvoll gesetzten Worten und sensiblen Träumen, von Frieden und Menschen, die Liebe in sich tragen, erzählen, ist unermesslich groß in mir geworden. Ich möchte Zeit und Gelegenheit finden, mich in diese Geschichten zu begeben, begehre und bitte, dass sie mir die Welt, die mich als Realität umgibt, zu vergessen und zu verlassen helfen. Für immer!

Ich weiß, dass dieser Wunsch und all die Flüchte in jene Melodien, Bilder, Stimmen, die ich beschrieben habe, zugleich Teil und Grund meiner Traurigkeit sind, weil sie entweder unerfüllbar oder nur zeitweilig erreichbar sind. Die eigentliche Ursache für mein Sein, wie es geworden ist, ist aber die reale Welt und meine Ohnmacht und Unfähigkeit, mich ihr stellen und in ihr bestehen zu können, so, dass ich Lebenswürdigkeit empfinden und den Hunger meines Gewissens stillen könnte.

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Die kleine Blume am Wegesrand, die aufrichtigen, erwartungsvollen Augen des Kindes, der Gesang der Blaumeise, das stille Dahingleiten des Schwans auf dem Wasser, die sanfte Stimme und das nicht urteilende Verstehen der letzten Freundin, das aufopferungsvolle Weitermachen der vielen Schwachen, Benachteiligten, Unterdrückten, die Liebe, die die Leisen schenken – sie sind jene Schönheit, die mir die schmerzhafteste geworden ist, weil ich spüre, wie sehr sie mich umarmen möchte.

Ich aber bin der Umarmungen längst entwöhnt worden …

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„Sinister Seduction“ ist ein Gothic-Darkwave-Duo, das seit 2021 zusammen Lieder schreibt. Der eine Teil des Duos ist der aus Stuttgart stammende Matthias Blind. Er konnte die in Ungarn aufgewachsene Judith Agnes Soyka als Sängerin gewinnen, die aber auch an vielen Liedern mitschreibt. Auch den Bandnamen haben die beiden gemeinsam ausgesucht.

Die Lieder sind überwiegend sehr melodisch und von viel Melancholie, Traurigkeit und zum Teil auch Resignation geprägt. Etliche von ihnen gehören zu jenen, von denen ich oben schrieb, dass ich mich darin (wenigstens in Teilen) verstanden fühle. Die Melodien berühren mich häufig sehr. Sie sind meist sehr schön. Ein Beispiel für all das möchte ich heute hier teilen, es ist das Lied vom gefallenen Engel:

Sinister Seduction – „Gefallener Engel“

4 Gedanken zu “Tagebuchseite -1033-

  1. Einen solchen Begleiter zu haben, ist unglaublich schwer und ihn akzeptieren zu lernen noch viel schwieriger. Allein, dass du dich dieser Aufgabe stellst, ist unglaublich mutig. Selbst, wenn sein Schatten auf dem nahenden Frühling liegt, tragen deine Worte und deine Beschreibungen eine tragische Schönheit mit sich. Es berührt mich sehr.
    Von Herzen ganz liebe Grüße und Kraft 💚

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    • Deine Worte sind mit so viel Empathie, Wertschätzung, Verständnis, Liebe und ohne jedes (Ver-)Urteilen geschrieben, dass ich gerade große Mühe habe, die Spur zu halten.

      Und offensichtlich konntest Du diesen schweren Text sogar mögen und er hat Dich wirklich berührt.

      Das ist (wie) ein Geschenk für mich, weißt Du das?

      Liebsten Dank, liebe Lisa und ebensolche Grüße an Dich! ✨💗

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