Tagebuchseite -1027-

Schulterklopfen

„Ein gutes Buch ist mir so wichtig. Wenn ich lesen kann, ist es, als wenn mir ein guter Freund auf die Schulter klopft. Die Bilder, die Schönheit der Sprache, der Geist, die alle dieses Klopfen ausmachen, sind manchmal das Einzige, was dafür sorgt, dass ich diese Welt noch verkraften kann, dass ich mich nicht vollkommen verloren fühle. Nicht lesen zu können, lässt die eigene Einsamkeit spüren.“

So oder ganz ähnlich waren Worte, die ich heute hörte. Sie waren eine der Quintessenzen eines Gesprächs, wie ich es nur sehr selten habe. Eines Gesprächs, das wie ein Glücksmoment war, geradezu skurril in der Umgebung, dem Rahmen, in dem es stattfand und sich ergab, ebenso zufällig wie zwanglos.

Es waren Worte, die ich hätte womöglich nie so aussprechen können, Worte, die aus einem Menschen sprachen, von dem ich sehr wenig weiß, den ich selten sehe, obwohl wir gerade ein paar hundert Meter Luftlinie voneinander entfernt unsere schwierigen Tagwerke verrichten und von dem es spricht, dass er womöglich nur eine Episode sein wird, da wo ich arbeite.

Die Worte, die er sagte, haben mich sehr berührt, ja, sie haben mich getroffen. Mitten in meine Seele, die sich in diesen Wochen wieder einmal mehr und intensiver denn je fragt, was gerade, oder treffender, schon wieder, mit mir geschieht.

Ich lese nicht mehr, seit Wochen. Ich kann es nicht, weil ich es nicht schaffe oder weil ich zu erschöpft bin. (Mit dem Schreiben ist es ebenso, weshalb mein Tagebuch schon so lange von keiner neuen Zeile mehr aufgesucht worden ist.)

Ich lese nicht mehr und bin also nicht mehr ich.

Ich gehöre vollkommen meiner Arbeit, und wenn sie mir hin und wieder doch einmal eine dunkle Stunde überlässt, gehöre ich meinen Gedanken, die keine guten sind. Sie sind traurig und verzweifelt. Sie grollen mich an und zeigen mir Indizien dafür auf, dass ich, die Menschen betrachtend, die mich kennen, mittlerweile wohl am wenigsten von jenen gemocht werde, denen ich einst am nächsten war. Wenn ich ein nettes Wort, ein freundliches Lächeln, ein bisschen Anerkennung erhalte, dann ist das immer anderswo.

Ich weiß, dass, wie ich lebe, nicht „normal“ ist, weiß, dass ich in vielerlei Hinsicht nicht genug bin und nicht genug sein kann. Ich weiß, dass ich keine breiten Flügel habe und dass ich sie mir obendrein, mit meiner Art zu existieren, selbst noch stutze, ohne, dass ich eine Wahl hätte, es nicht zu tun. Das ist es vor allem, was andere Menschen nicht zu verstehen zu vermögen. Jene Menschen, die mir nicht so nah sind, mir nicht so nah sein oder gar mit mir leben müssen, ficht das nicht an, die anderen aber zerbrechen offenkundig an mir.

Und ich, ich sehe, höre, spüre das und bin längst zu jenem Schrei geworden, der in mir immer wieder aufs Neue erstickt, engagiere mich für meine Arbeit, sitze Wochenende für Wochenende am Schreibtisch, umgeben von einer Wohnung, die all meine Unzulänglichkeit, Unfähigkeit, all mein nicht vorhandenes Selbstvertrauen und meine Ängste zur Schau trägt.

Wen oder was wundert es, dass ich dort immer öfter allein bin, allein esse, schlafe, Musik höre. Und wen oder was wundert es, dass ich, wenn ich nicht arbeite, auch allein Besorgungen erledige, einen Kaffee oder Tee trinke oder, was freilich nicht oft geschieht, meinem Lieblingsitaliener einen Besuch abstatte.

Für Spaziergänge bleibt kaum Zeit, und hätte ich welche, würde ich sie meist vermeiden. Mit mir allein spazieren zu gehen, endet in tiefer Traurigkeit. Es macht so besonders bewusst, wie einsam ich mich fühle, wie einsam ich bin. Macht auch besonders bewusst, dass neben der vielen Arbeit so viel an und in mir selbst begründet liegt, dass mich nicht mehr oder kaum noch lesen (und schreiben) lässt.

Da also, wo ein Anlehnen, eine Schutz vermittelnde Berührung, ein liebes Wort, schon lange fehlen, wo ich mit meiner Weltsicht stehe, die kaum jemand hören oder gar teilen mag, und mit meinen komplexen und skurrilen Fragen und meiner ganzen Mangelhaftigkeit, da, wo es nun gar mit dem Schulterklopfen aus meinen papiernen Freunden heraus, die mir immer noch so nah, aber zunehmend schwerer erreichbar sind, immer und immer weniger wird, da stehe ich nun, während die Worte aus jenem besonderen Gespräch in mir nachhallen.

Am vorigen Wochenende kam ein Buch mit der Post, eins mit einem kleinen Wunsch für mich, persönlich geschrieben und unterzeichnet von der Autorin. Kurzgeschichten stehen darin. –

Ich nehme es mit auf meine Wege zur und von der Arbeit, auf meine unruhigen, unterbrochenen und deshalb jeweils nur recht kurzen Reisen in manchmal überfüllten Bussen, in denen lauthals gesprochen, telefoniert oder Videos aus den „sozialen“ Medien geschaut werden, und die darob vollkommen ungeeignet sind, lesend, so tief wie nötig in einen Text zu versinken.

Ich nehme es mit, schlage es auf und lese gegen all den unsäglichen Trubel an.  Und weil die Geschichten so kurz sind, schaffe ich es doch, sie in mich aufzunehmen und auf mich wirken zu lassen, eine nach der anderen.

Wenn ich das Buch dann zuschlage, bin ich immer ein bisschen glücklich. Und ich bin dankbar, denn ich durfte für einen Moment ein leises Schulterklopfen spüren. Und es macht mir nichts aus, dass ich mit dieser besonderen Art des Fühlens und Spürens wohl in jedem der Busse, die ich benutze, allein bin. Denn ich sehe sonst nie einen Menschen darin in einem Buch lesen. – So sehr haben sich die Zeiten geändert.

Ich fühle mich allein, also auch in dem Augenblick, in dem mir das bewusst wird. Aber ich fühle mich nicht einsam.

Das schmale Buch mit den Kurzgeschichten, mein neuester Freund, ruht noch auf meinem Schoß.

Bis ich aussteigen muss …

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„The Last Dinner Party „ist eine britische Indie-Rock-Band aus London, die 2021 gegründet wurde. Ihr Debütalbum „Prelude to Ecstasy“ soll im Februar 2024 erscheinen. Ihre allererste Single „Nothing Matters“ kam im April dieses Jahres heraus, nachdem die Band es, begründet durch die Corona-Pandemie, zunächst schwer hatte, sich zu finden und hinreichend proben zu können. Das Lied hat allerdings für ein Erstlingswerk einer Indie-Band eine sehr bemerkenswerte Resonanz gefunden, die Musikalität der Gruppe, die aus jungen Frauen besteht, wirkt bereits ausgesprochen professionell. Man darf auf Weiteres sehr neugierig sein. Hier ist erst einmal:

The Last Dinner Party – „Nothing Matters“

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