Sammelsurium -135- (Fünf Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Die Stille auf den Blättern meines Tagebuchs ist keine leise. Leere Seiten können so laut sein.

In den Lärm, in die Unruhe, die sie bergen, lege ich wieder einmal ein paar aphoristische Gedanken, die keinem Pfad und keiner Regel folgen, die aus mir gekommen sind, an Morgen, an Abenden, in Nächten, an den unterschiedlichsten Orten … :

Die schönsten Orte sind dort, wo unsere Sehnsüchte auf Antworten treffen.

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Erst im Kontext mit vielen Anderen ist ein Mensch einzigartig und ist darin doch ganz allein.

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Wie bizarr das ist: Erst ein Pass macht heutzutage einen Menschen.

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Keine Despotie, keine Autokratie, die Bürokratie ist jene Herrschaftsform, die die Demokratie tatsächlich zu besiegen vermag.

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Sollte es nochmals eine Sintflut geben, wird man das vormalige Gebiet Deutschlands unzweifelhaft daran erkennen können, dass dort die meisten Formulare oben schwimmen werden.

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Schnipsel (31)

Was noch ist

Endlich war die Tür hinter ihm zugeschlagen. Mit einem letzten großen Schritt, der kaum noch die Schwelle zu erreichen vermochte, hatte er es doch wieder geschafft. Geschafft auf die Insel der Zeit, die nichts forderte. Eine sehr kleine Insel, die er bald würde schon wieder verlassen müssen …

Aber nun war er gerade angekommen und es war Stille, wahrhaftige Stille.

Jetzt, in diesem ersten Moment der Ruhe, fühlte er, wie alles von ihm gegangen war.

Ja, es war schon fort, aber er spürte es erst jetzt. Und es fühlte sich sogar schön an.

Dass er selbst es war, der nun fort war, dass er es war, der sich schon längst verloren hatte, ohne es bemerkt zu haben, das realisierte er erst Tage später, dann aber mit jeder Stunde, jeder Minute mehr, intensiver, schmerzhafter.

Es waren jene wenigen Tage, die die kleine Insel ihm hatte bereithalten können, während der er hier einen winzigen Traum und dort einen bescheidenen Wunsch leben wollte. Das, was ihm noch einmal die Kraft verliehen hatte für jenen letzten großen Schritt auf die Schwelle der Tür, die den Alltag für einen Wimpernschlag hinter ihm zurückließ.

Aber nun war er ja fort, hatte sich irgendwo, irgendwie verloren.

Und so war niemand mehr da, der den Traum oder den Wunsch hätte leben können.

So ging die Tür wieder auf und stoisch verließ sein furchtbar stark gewordener Schmerz die kleine Insel hin zum Alltag, dem er nie entkommen konnte, obwohl er doch längst darin verloren gegangen war.

Schmerz:  Das Leben, das er noch war, das er noch ist.

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Als Schlagzeugerin, Sängerin, Vibraphonistin, Komponistin, Autorin und treibende Kraft ihres Soloprojekts ist Isolde Lasoen (geboren am 31.12.1979 in Brügge – Belgien) eine echte DIY- und unabhängige Künstlerin. Ihr Stil kann als Vintage, cineastisch, jazzig, reichhaltig, melancholisch und eklektisch beschrieben werden. Charakteristisch sind ihr Schlagzeug, ihre verführerische Stimme, beeindruckende Arrangements und schöne Instrumentalstücke. Isoldes Musik ist voll von eingängigen Melodien, episch anmutenden Kompositionen, dramatischen Akkorden und orchestralen Streicherarrangements. Weniger ist mehr, außer in der Musik.  (© Isolde Lasoen auf spotify)

Das wunderbare Lied, das ich heute hier teile, singt sie gemeinsam mit dem 1963 in Bastia auf Korsika geborenen Musiker, Komponisten, Produzenten und Sänger Bertrand Burgalat.

Isolde Lasoen feat. Bertrand Burgalat – „Douce Mélancolie“

Sammelsurium -134- (Sechs Sprüchlein und ein Lied)

Ich bin sehr, sehr nachdenklich seit dem Jahreswechsel, habe mich, der ich mich irgendwann vor dem letzten Weihnachtsfest verlor, immer noch nicht wiederfinden können. Ich weiß, wer ich bin und bin mir doch so fremd.

Ich bin der ich bin und bin doch nicht Ich. Die Welt tut, was sie will, mit mir. Und ich kann ihr nicht entfliehen. Das ist mein Status quo.

Ich bin (m)ein Status quo.

Aus diesem geboren sind in letzter Zeit wieder einige aphoristische Gedanken zu jener Materie geworden, die ich auf Papier oder hier in meinem Tagebuch archivieren oder auch teilen kann.

Wer will, mag darüber sinnen, streiten, sich oder mich befragen:

Es gibt keine Träume, die verboten sind.

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Lügen werden erst durch den Verstand. Ein Herz lügt nie.

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Wirklicher Reichtum hat so gar nichts mit Geld und Vermögen zu tun. So kommt es, dass so viele reiche Menschen in bitterer Armut leben.

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Lügen haben keine kurzen Beine. Wie sollten sich so viele von ihnen sonst derart schnell und weit zu verbreiten imstande sein?

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Schönheit ist nur, wenn Zweisamkeit ist. Das gilt auch, wenn du allein bist, mit dir; deiner Seele. Die Freude, die sie dir dann schenkt, ist zugleich aber auch immer Schmerz und Traurigkeit.

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Ein Mensch mit einem starken, strengen Gewissen, läuft Gefahr, nicht mehr frei sein zu können.

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Im vergangenen September habe ich hier erstmals ein Lied von „Tränen“ geteilt. Inzwischen ist das erste Album des bemerkenswerten Duos erschienen, auf dem sich meiner Ansicht nach viele interessante und hörenswerte Lieder befinden. Eins der besonderen darunter ist: „Zu alt geboren“.

Tränen – „Zu alt geboren“

Sammelsurium -133- (Vier Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Mein heutiger Eintrag in mein Tagebuch enthält mal wieder etwas aus meinem Sammelsurium eigener Aphorismen und Schnipsel:

Jene Lächeln, die wie ein sanftes Streicheln sind, können so unsagbar schmerzhaft sein …

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Nur die Zeit ist vollkommen unabhängig und also unsterblich. Alles Andere vergeht früher oder später, sie aber geht immer und immer weiter.

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Wo sich Seelenverwandtschaft über die Art und Weise, wie Menschen miteinander sprechen offenbart, braucht es nicht viele Worte.

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Ein Mensch drehte sich um 180° und sprach, dass der Berg, der sich eben noch vor ihm aufgetürmt hatte, nun hinter ihm läge. Als wenn eine Wende bedeuten würde, etwas überwunden zu haben …

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Schnipsel (30)

Selbstbildnis

Ein Mann, unrasiert, augenblicklich in der bequemen Weite und einzigartig seine eigene Wärme spendender, nicht gesellschaftsfähiger Kleidung wohnend –  in seiner rechten Hand ein Bleistiftstummel, mit dem er Buchstabenzeichen zu Zeilen verbindend auf ein Stück stark vergilbten Papiers schreibt, sie wieder streicht und korrigiert und neue, andere hinzufügt.

Nachdenklich schaut er auf von dem kleinen Schreibtisch voller unordentlich drapierter Skurrilität und Notwendigkeit. Hinter sich das Bild mit dem am offenen Fenster sitzenden, lesenden Mädchen wissend, das ihn für immer Verbindung zu seinem Vater besonders spüren lässt.

Es gibt nur wenig, was sonst noch zählt.

Als der Mann sich vorstellt, für das Mädchen zu schreiben, an seinen Vater, lässt die besondere Musik, die sein Tun begleitet, auf ihrem Klang eine weitere, eine schöne, Zeile auf das alte Papier fließen.

Er muss lächeln für einen Wimpernschlag:

Wenn dieses Bild, das er hier abgibt, das niemand vermuten, niemand auch nur erahnen kann, nun die wahre Metapher für künstl(er)i(s)che Intelligenz wäre …

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Kate Peytavin ist eine 18-jährige Influencerin und Sängerin, deren musikalische Laufbahn gerade begonnen hat. Sie stammt aus New Orleans in den USA. Ihre ersten veröffentlichten Songs haben mir gut gefallen, am meisten jener, ihr neuester wohl, den ich heute hier teile. Es ist ein schönes, eingängiges, aber nicht oberflächliches Lied, was nicht nur sein Text belegt. Seit ich es zum ersten Mal gehört habe, wünsche ich mir, dass es doch ein bisschen länger sein könnte …

Kate Peytavin – „Big white light“

Sammelsurium -132- (Fünf Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Es hört nicht auf, dass mir wieder und wieder (vermeintliche) Erkenntnisse aus eigenen Gedanken gerinnen. Viele davon haben im Laufe der Zeit ihren Platz in meinem Tagebuch hier gefunden. Ein paar meiner neuesten möchte ich nun hinzufügen:

Am Ende sind wohl Bücher die verlässlichsten Freunde. Sie bleiben, auch wenn alle Anderen längst gegangen sind.

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Wenig ist erdender, tröstlicher, befreiender und beruhigender, als einen Menschen beim Lesen eines Romans zu beobachten. Lesende Menschen vermitteln einen Frieden, wie ihn sonst nur eine schöne Naturlandschaft auszustrahlen vermag. Für Menschen, die schreiben, gilt das übrigens ganz ähnlich.

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Die Verbindung mit der eigenen Seele ist fester als jede Ehe und die einzige, für die buchstäblich gilt: „Bis dass der Tod euch scheidet!“. Vorher gibt es keine Trennung, nicht einmal Urlaub voneinander.

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Egoismus kann womöglich auch eine Eigenschaft nichtmenschlicher Lebewesen auf unserer Erde sein. Seine Steigerungsformen (Gier, Herrschsucht, Neid, Machtstreben …) aber, die letztlich bewusst Nachteil und Schaden anderer in Kauf nehmen, ja voraussetzen, sind allein „menschliche“ Eigenschaften. Was für eine traurige, paradoxe Wahrheit!

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Sprache zu lieben und zu pflegen, erfordert Kultur, Sensibilität, Weltoffenheit, Aufmerksamkeit, einen feinen Charakter. Deshalb sind Menschen, die Sprache wahrhaft lieben, oft sehr schöne Menschen.

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Schnipsel (29)

Wer äußerlich ein alter weißer Mann ist, wird als alter weißer Mann gesehen und beurteilt. So wie ein/e Schwarze/r als Schwarze/r gesehen und beurteilt wird, ein/e Homosexuelle/r als Homosexuelle/r und so weiter.

Dagegen ist kein Kraut gewachsen.

Er erfährt das immer wieder. Selbst, wenn er mit guten alten Freunden zusammen ist. Sie reden, reden vermeintlich, „einfach so“ daher, so wie die beiden am vergangenen Wochenende.

Er schämt sich dafür, auch dafür, dass er nicht wirklich etwas dagegen gesetzt hat. Womöglich, weil es diesmal auch ihn selbst betroffen hat, den alten weißen Mann. Nicht offenkundig, viel mehr unterschwellig. Was es nicht besser gemacht hat. Im Gegenteil. Auch die meisten „Be- und Verurteilungen von Schwarzen, von Homosexuellen, überhaupt von Menschen, die „anders“ sind, geschehen so.

Was er empfunden hat, war eine unterschwellige, nicht offen geäußerte, womöglich „nur“ unsensible Unterstellung, vielleicht ein „Verdacht“. – Das hat sehr weh getan. Zumal von einer langjährigen Freundin „empfangen“, die viel und mehr über ihn weiß, auch darüber, was ihm besonders weh tun könnte.

Er schämt sich auch für seinen Schmerz. Wissend, dass und wie lächerlich er ist, im Verhältnis zu dem, was Schwarze, Homosexuelle, Frauen, „Andere“, an Schmerz aushalten müssen, oft wiederkehrend, beständig, andauernd.

Vielleicht empfindet er, was seine berechtigte Scham nicht relativieren soll, seinen Schmerz so stark, weil da noch etwas anderes ist:

Er hat bemerkt, dass die alten Freundschaften Risse bekommen. Grundverständnisse geraten ins Wanken, Meinungsverschiedenheiten gehen nicht mehr immer sachlich oder gar friedlich vonstatten. Es geht darum, recht zu haben. Um Preise, um die vor Jahren nie in diesem Kreis auch nur ansatzweise gefeilscht worden wäre. Aber nun ist da manchmal zwischendurch nur noch ein irritierendes, peinliches Schweigen, eines, das tatsächlich wichtige Dinge ungesagt bleiben lässt.

Alte weiße Männer bleiben, vor allem, wenn sie eigentlich keine sind, offenkundig irgendwann allein zurück.

Er hat deshalb kein Mitleid mit sich.

Aber es tut ihm eben doch weh.

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Julia Meladin ist eine aktuell 20 Jahre junge Sängerin und Songschreiberin. Viel mehr konnte ich nicht über sie in Erfahrung bringen, aber mir ist erst vor wenigen Tagen ein Lied, das neueste wohl, von ihr begegnet, das mich sehr aufhorchen ließ.

Was für ein toller, wichtiger Text zu einem absolut „brennenden“ Thema! Die Musik werden jüngere Leute mehr mögen als ich, aber ich möchte das Lied doch sehr gern hier teilen, eben, weil es so eine wichtige Botschaft transportiert:

Julia Meladin – „10 von 10“

Sammelsurium -131- (Ein Schnipsel und ein Lied)

Schnipsel (28)

Eine Geschichte über den, der sie geschrieben hat

Er hatte so viele Hinweise bekommen, Ratschläge gehört, Weisheiten gelesen. Und mit den Jahren hatte er festgestellt, dass er sie nicht umzusetzen vermocht hat.

Dann begegnete ihm die letzte Weisheit, gegossen in Aphorismen, gesprochen von Therapeuten, benickt von all denen, die es geschafft hatten.: Du bist letztlich selbst verantwortlich dafür, wo du nun stehst. (Denn du selbst hast es in der Hand gehabt.)

Da bekam er Schuldgefühle: Er selbst hatte es verbaut, er war des Unglückes Schmied, das er jetzt beständig fühlte und auszuhalten hatte. Er hatte versagt, an und für sich selbst.

Es war ihm kein Trost zu bemerken, dass es neben ihm noch etliche Versager mehr zu geben schien, jene, die immer wieder fleißig (unbezahlte) Überstunden geleistet hatten, die immer pünktlich zu Terminen erschienen waren, die bestrebt waren, Ihren Haushalt in Ordnung zu halten, die im Umgang mit anderen Rücksicht walten ließen und sich deshalb manches Mal nicht in die erste Reihe drängten und versucht hatten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten gesund und ethisch zu leben und deshalb auf manches Verlockende verzichteten.

Sie hätten sich lieber Zeit nehmen sollen, so zu leben, wie sie es sich in ihren Träumen vorgestellt haben, sie hätten sich mehr Zeit für sich selbst, ihre ureigenen Interessen und Neigungen nehmen sollen, hätten viel mehr jenen Dingen nachgehen sollen, die sie liebten.

Er hielt einen Augenblick inne, und sann darüber nach, dass dann wohl vor allem viele Menschen, die sich schon lange oder noch nie einen Urlaub leisten konnten, die noch beim Discounter nach den Sonderangeboten suchten, die in einer luxusfreien Plattenbauwohnung mit brennpunktspezifischem Umfeld lebten, selbst dafür verantwortlich seien, dass sie lebten, wie sie eben leben. Gar nicht zu reden von jenen Millionen, die in den Slums aus dem Rahmen geratener Großstädte bzw. auf den in sie fließend übergehenden Müllkippen ihr Dasein und ihr „Auskommen“ bestritten.

Und ihm wurde bewusst, was für ein Luxusproblem seine durch sein eigenes Versagen hervorgerufene persönliche Situation dagegen war und zu seinem Schuldempfinden gesellte sich nun auch noch Scham.

Mit dem immer umfassender werdenden Ausmaß, in welchem er nicht einsehen konnte und wollte, wie wenig eigenverantwortlich, statt dessen aber „selbstschuldig“  er an und für seinen Status Quo war, wuchs sein Unvermögen, die Welt verstehen und akzeptieren zu können. Er wurde menschenscheu und trat den Rückzug an. In sich selbst. Wohl aus Verzweiflung, auch, weil er nicht einfach einem oder mehreren Anderen die Schuld zuweisen wollte, aus Verbitterung, weil er keinen Ausweg sah, der Kampf gegen das eigene Selbstmitleid deshalb aber beständig wurde und Kraft zehrte und schließlich auch zum vermeintlichen Selbstschutz.

Vor gut zwei Jahren hatte er einmal geschrieben:

„Es kommt nicht mehr darauf an, wo meine Reise hinführt. Wichtig ist, dass ich weiterfahre, weitergehe. Auch und gerade dann, wenn ich dabei allein oder gar einsam bin.

Wichtig ist, dass ich mich nicht verliere. Und wenn ich mich verloren habe, dass ich mich dann wiederfinde und mich damit arrangiere, so, dass die Reise nicht nur Anstrengung ist, nicht nur Frustration produziert, Schuld- und Versagensempfinden. Auch dann nicht, wenn das Wiederfinden und Finden eben immer mehr nur noch in und bei mir selbst geschieht.“

Inzwischen waren ihm sehr wichtige Menschen verstorben, hatten sich in seinem Umfeld Veränderungen ergeben, die ihm das Weitergehen schwerer und schwerer machten, war seine Sorge berechtigter geworden, sich an immer weniger Orten und vor immer weniger Menschen wirklich frei äußern und austauschen zu können. Die Welt, Politik und Wirtschaft und Zusammenleben, wie sie sich dort entwickelten, waren ihm fremder und fremder geworden.

Seine Gedanken, die er vor gut zwei Jahren aufgeschrieben hatte, empfand er dennoch oder gerade deshalb, als ziemlich klug und zutreffender denn je.

Er erinnerte sich, dass er sie aus Anlass der Besprechung eines Aphorismus notiert hatte. Dieser stammte von George Orwell und lautete:

„Zu einer Minderheit zu gehören, selbst zu einer Minderheit von einem einzigen Menschen, stempelt einen noch nicht als verrückt“

Was er seinerzeit gar nicht bemerkt hatte, ihm jetzt aber geradezu eindringlich vor sein Bewusstsein trat, war die Erkenntnis, dass es, wenn man denn als Mensch schließlich ganz mit sich allein ist, keine Bedeutung mehr hat, ob man am Ende nicht doch verrückt wird oder ist oder von anderen derart wahrgenommen oder bezeichnet wird.

Schließlich hat man dann selbst längst jede Bedeutung verloren.

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2013 wurde „Cannons“, eine us-amerikanische Indie-Pop-Band in Los Angeles gegründet. . Die Band besteht aus der Sängerin Michelle Joy, dem Gitarristen Ryan Clapham und dem Keyboarder und Bassisten Paul Davis. Der Sound der Gruppe folgt vor allem dem Electro-Pop und dem Synthwave. Alle Lieder sind sehr angenehm zu hören.

Vom dritten, Ende 2022 erschienen, Album der Band stammt das Stück „Hurricane“, das ich hier nun teile. Es hat eine für eine Indie-Formation erstaunlich hohe „Klickzahl“ auf youtube, zumal sich nach meiner Kenntnis die Band bislang nicht in den Charts platzieren konnte. (Achtung: Das Video ist in Teilen etwas „speziell“, wer gar kein Blut sehen mag, sollte im Zweifel etwas vorsichtig sein.):

Cannons – „Hurricane“

Sammelsurium -130- (Drei Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Das heutige „Sammelsurium“ startet mal wieder mit ein paar „sinnigen Gedanken“ aus eigener Feder:

Je mehr ausschließlich Wissen Fundament von Weisheit ist, desto unvollkommener ist sie. Wirklich weise ist derjenige, der zuzuhören versteht, der differenziert und hinterfragt, respektvoll ist und vor allem nicht vorschnell Urteile fällt. Derartige Weisheit ist übrigens an kein Lebensalter gebunden.

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Niemandem gehört sein Leben allein.

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Das Leben findet nicht dort statt, wo Politik gemacht wird. Solange das so ist und bleibt, wird sie mehr oder weniger weltfremd bleiben.

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Schnipsel (27)

Von einem wirklichen Frost

Wortfetzen und Reime, manchmal eine ganze Strophe, gleiten fort, aus mir heraus, landen auf Straßen und Wegen ohne Menschen und werden dort dennoch zertreten. Ich kann sie nicht halten, nicht bewahren. Sie wollen ja raus, aber sie sind und bleiben immer unfertig, seit Wochen schon, wenn sie fliehen und schließlich verloren gehen.

Ich schaffe es nicht, sie zu halten. Und ich finde sie nicht wieder.

So können keine Verse werden und keine Gedichte. Und deshalb werden auch, seit Wochen schon, keine mehr.

Die Poesie vergeht, wo kein Leben mehr ist, wo die Monotonie und Strapaze des Täglichen das Kommando übernommen haben, zu seiner Aura werden.

Wer in so einer Aura existiert, ist nicht mehr frei. Wer nicht frei ist, kann nicht wirklich schreiben, am wenigsten Lyrik.

An die Stelle des frei Seins tritt eine immer größer werdende Gefangenschaft. Gefangenschaft in Pflichten, in Zwängen, in Strukturen, in Kontexten anderer Menschen und in sich selbst. Wenn außerdem keine Saite einer schönen Berührung mehr schwingt, ist das die Geburtsstunde eines Mörtels, der die Mauern des Gefängnisses noch höher und noch stärker werden lässt

Wer dahinter noch Reime oder Strophen zwitschern könnte, würde von niemandem mehr gehört. Womöglich wissen sie das, sie, die Lyrik werden könnten, und gleiten deshalb fort, lassen sich zertreten und wehren sich nicht dagegen, verloren zu gehen.

Und ich bleibe zurück.

Und friere, obwohl es Frühling werden möchte.

Immer mehr!

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Die deutsche Sängerin und Songschreiberin Alex Mayr hatte ich Anfang des vorigen Jahres hier erstmalig vorgestellt. Inzwischen habe ich manches sehr hörenswerte Lied von ihr entdeckt, kürzlich, jenes, das ich hier heute teilen möchte. Es stammt von ihrem Debütalbum und besticht neben einer eingängigen, aber niemals kitschigen Melodie, wie fast alle ihre Lieder durch einen besonderen, zugleich nachdenklich machenden und inspirierenden Text. Und dann ist da auch noch die Stimme der Sängerin …

Alex Mayr – „Ein Pilot“

Sammelsurium -129- (Ein Schnipsel und ein Lied)

Schnipsel (26)

Die Stadt liegt hinter ihm. Die flackernde, lärmende, unruhige Stadt, in deren Straßen und hinter deren Mauern die Musik atemlos durch die Nacht jagt. Und die Menschen. Und alles andere sonst auch. In eben dieser Geschwindigkeit hatte er dieser Tage immer wieder ein „Frohes Neues!“ oder „Gesundes Neues!“ dahingesagt gehört.

Wie viel ist ein Wunsch wert, der, weil so hektisch dahingesagt, wie es der Zeitgeist vorzugeben scheint, nur noch aus zwei Worten besteht und voraussetzt, dass die Adressaten sowieso wissen, was gemeint ist? Vermutlich wissen sie es ja wirklich, aber wie das Gesagte tatsächlich gemeint ist, lässt sich in einem Zwischenraum von zwei im allgegenwärtigen Tempo des Lichts und der Töne herunter gespulten Worten wohl kaum erspüren.

Wo es ständig lärmt, flackert und unruhig ist, sind Spüren, Fühlen und Empfinden zu leise, können nicht mithalten, nicht bestehen. Hatten sie einmal einen Platz in dieser Welt, so ist dieser längst verschwunden. Worte, die Wünsche meinen, werden zur Floskel oder bleiben ungehört und unbemerkt, zumal wenn sie eine sachte Stimme sagt.

Deshalb ist er gegangen.

Nicht, dass er so große Wünsche gehabt hätte. Im Gegenteil, sie waren, sie sind zu klein, zu unbedeutend, für die schrille, laute, jagende, blinkende Welt, zu klein, nicht von Bedeutung und also zu vernachlässigen.

Mit dem fortschreitenden Zurückbleiben der Stadt hinter seinen Schritten, beginnt er diese mehr und intensiver zu hören. Bis er schließlich nur noch diese, seine Schritte hört. Sonst nichts, in der immer vollkommener werdenden Dunkelheit, die das letzte Reflektieren der Lichter der Stadt, schließlich ganz und gar verschluckt.

Er fühlt sich geborgen und verlassen zugleich und bemerkt, dass das Geräusch seines schlagenden Herzens jenes der Schritte, die er in die Finsternis setzt, begleitet und mehr und mehr deren Zeitmaß bestimmt. Dass dies einmal so sein würde, er sich im Zeitmaß seines Herzens bewegen dürfe, war immer einer seiner kleinen Wünsche gewesen.

Freilich hatte er das Wahr werden dieser Sehnsucht immer als von einem sanften Licht begleitet geträumt. Hier aber ist es nun ganz und gar dunkel und nirgendwo ist ein freundliches, sachtes Leuchten auch nur zu erahnen. Er wähnt, sich zu verlaufen oder sich schon verlaufen zu haben.

Seine Schritte werden kürzer, in dem Maße, wie sein Herz lauter und schneller zu schlagen beginnt. Es schlägt schließlich so stark und so laut, dass Angst in ihm aufsteigt, es schwillt an, wird grell, fast pfeifend …

… fiepend …

Sein Wecker fiept ihn unbarmherzig aus seinem Traum.

Die Stadt beginnt wieder zu lärmen und zu flackern. Das Herzklopfen und die Angst bleiben.

Er schaltet das Radio ein. Die Musik rast durch den Äther von Rhythmen im rasanten Viervierteltakt getrieben, dazwischen ist die Zeit für Worte knapp bemessen. „Frohes Neues!“ hört er den Moderator rufen. Ein Wunsch, zwei Worte.

Es ist wie immer …

***

Das „Frank Popp Ensemble“ war eine deutsche Band aus Düsseldorf, die erstmals im Jahr 2001 einen Song veröffentlichte. Mit dem Lied  „Hip Teens Don’t Wear Blue Jeans“, das im Jahr 2003 eine Coca-Cola-Werbung begleitete, landete die Band einen Achtungserfolg in den Charts. Bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2008 folgten die Musiker mit ihren Veröffentlichungen dem Soulstil der 60er Jahre. 2009 brachte Frank Popp noch das Album „Reciever“ unter seinem Namen heraus, 2020 wurde es unter dem ursprünglichen Bandnamen dann noch einmal wiederveröffentlicht.

Gemeinsam mit der südafrikanischen Musikerin Lucy Kruger präsentiert das Frank Popp Ensemble mit „Drifting“ nun ganz aktuell eine sanftere, melancholische und psychedelische Musik. Das Lied ist eine Auskopplung des Albums „Shifting“, das am 27.01.2023 bei Unique Records erscheinen soll. – Mir gefällt es sehr gut:

Frank Popp Ensemble – „Drifting“

Sammelsurium -128- (Sieben Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Das Herz ist das einzige Meer, an dem, wenn es überläuft, nur ein einziger Mensch ertrinken kann – derjenige, dem es gehört.

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Bescheidene Erwartungen bewahren vor schweren Enttäuschungen.

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Die größte Verzweiflung: Mehr und mehr über die Welt und die Menschen zu wissen und sie immer weniger zu verstehen.

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Frieden ist der Zustand der Natur, die Menschen ausgenommen.

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Für die wirklich reinen, guten, sensiblen Seelen bräuchte es einen anderen Planeten. Er wäre nicht der reichste, nicht der vollkommenste und überhaupt nicht perfekt. Aber Fortschritt hätte dort einen ganz anderen Sinn und ein ganz anderes und einziges Ziel: die Erhaltung und Vermehrung von Liebe, dem Lebenselixier dieser Seelen.

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Nichts ist so, wie ein Einzelner es zunächst sieht oder hört. Früher mag das Trost gewesen sein können. Heute freilich ist die Realität grundsätzlich schlimmer …

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Es ist ein immer unerträglicher werdender Zwiespalt, dem Auftrag zu folgen, Kinder bestmöglich auf eine Welt vorbereiten zu müssen, vor der man sie im Herzen vor allem unbedingt bewahren möchte.

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Schnipsel (25)

Ein Fazit:

Wenn es so weit gekommen ist, dass soziale Kontakte nur noch in der bzw. über die Arbeitswelt existieren, dann hat das eigene Leben sein Ende gefunden. Im Grunde ist dann der Tod bereits eingetreten, auch wenn die Bestimmung des Lebens noch etwas fortexistiert, nämlich so lange, bis die Kraft und das Vermögen arbeiten zu können, schließlich auch versiegen.

Ja, es ist paradox. Aber jemand, der insoweit längst gestorben ist, vermag immer noch Wissen, Liebe und Erfahrung zu vermitteln und weiterzugeben.

„Über den Tod hinaus wirken“ bekommt so eine ganz andere Lesart und Dimension, jene, einer letzten sinnhaften Mission für diejenigen, die bloß noch existieren, bevor sie auch körperlich und vermutlich einsam sterben.

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Das Lied, das ich heute hier teile, ist besonders, die Künstler, die es produziert haben und interpretieren, sind besonders. Denn bei aller Mühe habe ich kaum etwas über sie in Erfahrung bringen können.

Von OTE habe ich lediglich gefunden, dass es sich dabei um ein „Inkognito-Produzenten-Trio“ handeln soll, das in seiner Anonymität das nötige Maß an Freiheit zu finden bestrebt ist, das es ihm erlaubt, musikalische Landschaften ungehindert zu erkunden und eine ganz eigene Musikphilosophie zu entwickeln. Ein Teil davon ist offenbar, dass die Unkenntnis, welche Art von Künstler und Produzent da gerade am Werke ist, davor bewahren soll, eine Musik, einen Song mit einer vorgefassten Meinung zu hören.

Bei Naiad handelt es sich offensichtlich um eine Künstlerin aus den USA, die vor allem aus verschiedenen Techno-Stiles immer wieder ganz eigene Sounds kreiert. Damit soll sie bereits hohe Chart-Platzierungen errungen haben.

In jedem Fall erzählt das folgende, augenscheinlich bislang sehr wenig bekannte und gehörte Lied von einer sehr schönen Symbiose dieser beiden „Unbekannten“, musikalisch und textlich:

OTE feat. Naiad – „Back to Silence“:

Sammelsurium -127- (Ein Schnipsel)

Schnipsel (24)

Wenn es für Deinen Glauben keinen Altar gibt, für Deine Religion keine Kirche, dann kannst Du Dich nur selbst erlösen.

Das Mädchen, das ich gesehen habe, lebt am anderen Ende der Welt. Es saß still da und zeichnete. Abwechselnd mit einem Bleistift, einem Feinliner und einem feinen Pinsel. Auf meine Frage antwortete es, dass sein Motiv leere Augen seien.

Leere Augen, das ließ mich an Traurigkeit und Enttäuschung denken, an Resignation und Ohnmacht.

Die junge Frau zeichnete immer weiter. Wenn sie ihren Kopf einmal von ihrer Arbeit hob, zeigte die Kamera zwei sehr schöne braune Augen und ein fein geformtes Gesicht umrahmt von glatten dunklen Haaren. Es waren traurig schauende Augen. Etwas wie ein Schleier umspielte sie. Ein Schleier von Müdigkeit und Erschöpfung.

Ja, ließ sie mich wissen, sie habe wieder wenig und nur schlecht schlafen können.

Als die Wärme eines leichten grünen Tees, den sie sehr liebte, und ein sanfter Duft nach Vanille, in den sie sich gern hin und wieder verlor, sich den Weg durch das Fenster bahnte, das uns voneinander trennte, traute ich mich, sie nach ihrem größten Traum, ihren wichtigsten Wünschen zu fragen.

Wieder hob sie ihren Blick von ihrer Arbeit, schaute mich an. Ich spürte ihre Worte, die davon erzählten, dass sie früher einmal einen großen Traum gehabt habe, aber dass sie ihn nicht mehr träume, weil er niemals wahr werden könne. Und wandte sich ihrer Zeichnung wieder zu.

Ich sah ihr nun lange schweigend zu, ihren filigranen Bewegungen, mit denen sie ihre Zeichnung entstehen ließ und sie vervollkommnete. Sie arbeitete sehr konzentriert und fokussiert, wechselte die Zeichengeräte, verwendete Wasserfarben. Bevor sie eine neue Farbe benutzte, drückte sie den Pinsel jeweils gründlich in einem dafür vorhandenen Tuch, das sie neben sich liegen hatte, aus.

Während sie ihre Zeichnung prüfend vor sich hielt und sie aufmerksam aus verschiedenen Perspektiven betrachtete, erzählte ich ihr davon, dass auch ich keine großen Träume mehr träumen würde. Wenn ich kleine Träume träumte, sei die Enttäuschung nicht so groß, wenn sie nicht wahr würden und, dass manchmal doch einer dieser kleinen Träume wahr würde.

Unterdessen wuchs in meiner Seele der Wunsch, dass sie das Wahr werden eines kleinen schönen Traums erleben möge.

Mein Wunsch war noch nicht zu Ende gedacht, als ich sie wieder vernahm: Sie könne und wolle sich darüber nicht weiter äußern, aber kein Traum würde mehr wahr, auch kein kleiner.

Sie hielt nun, vom anderen Ende der Welt, für diejenigen, die die Geduld aufgebracht hatten, ihr bis zur Vollendung ihres kleinen Werkes zuzusehen, ihre Zeichnung in die Kamera. Vier Skizzen, die jeweils die Köpfe eines Mädchens und eines Jungen zeigten, die sich küssen. Keine zeigte die Augen der beiden, nur eins einen Ausschnitt der Gesichter, trauriger Gesichter.

Durch die Silhouetten zweier anderer wunderschöner Zeichnungen, von der die eine die sehr filigrane Gestalt einer jungen Frau andeutete, rückwärts zum Betrachter gewandt, und die andere ein Hand in Hand in die Weite fortgehendes Pärchen zeigte (auch diese beiden Zeichnungen ließen die Augen der Menschen nicht sichtbar werden), erkannte ich die Interessen für Psychologie und für Philosophie der Künstlerin, den Wert, den sie auf gegenseitiges Rücksichtnehmen, Einfühlungsvermögen und eine respektvolle Ethik zwischen den Menschen legt.

Als ich sie danach fragte, bestätigte sie mir meine Vermutung. Und fügte hinzu, dass sie sich freuen würde, wenn wir uns wieder begegneten.

Sie, die  am anderen Ende dieser Welt lebt und zudem in einer zweiten anderen Welt, die ich niemals betreten kann und werde, hat mich, auf eine für mich ganz neue und besondere Weise, zutiefst berührt. Vielleicht werde ich ihr noch das eine oder andere Mal beim Zeichnen zusehen können, durch das Fenster, dass uns trennt und verbindet, und mit ihr und durch sie doch immer wieder nur zu der einen Wahrheit gelangen zu können:

Wenn es für Deinen Glauben keinen Altar gibt, für Deine Religion keine Kirche, dann kannst Du Dich nur selbst erlösen.

Wie erlöst man sich selbst? Wie erlöst sie, wie erlöse ich mich selbst?

Und wie ist das mit den kleinen Träumen nun wirklich? Denen, die ich für Dich träume und denen für mich?

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Pippa (Pippa Galli) ist eine Schauspielerin sowie Sängerin und Songschreiberin aus Österreich. Nachdem sie sich zuerst und zuvorderst auf der Bühne und beim Film engagierte, begann sie ab 2012 auch eigene Songs zu schreiben. Ihr erstes Album erschien im Jahr 2019. Hinsichtlich ihres Musikstils hat sie sich nie „eindeutig“ festgelegt, allenthalben handelt es sich aber überwiegend um melodische, gut hörbare Stücke, mal poppig, mal balladenhaft. Die Texte ihrer Lieder haben häufig erheblichen Tiefgang, wofür das Lied, das ich heute hier vorstelle, ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist. Es stammt von ihrem zweiten Album, welches im August 2020 veröffentlicht wurde. Von der Stimmung her machen es eine spezielle Melancholie und auch ein wenig Hoffnung aus. Ich höre sehr gern:

Pippa – „Meine Traurigkeit“

Sammelsurium -126- (Ein Schnipsel)

Schnipsel (23)

Durch die Straßen der großen Stadt fließen die Lichter. Leuchtende Adern einer Magie, die Augen der Sehnsucht glitzern machen. Wie oft habe ich mich in sie hineingeträumt? Und ein Frei sein gefühlt, das niemanden bedrängte.

Die schönste einsame Freiheit, die mein Leben gekannt hat. Weil sie keinen Reichtum verhieß, aber das Herz weit und reich machte. Immer wieder aufs Neue.

Ich brauchte nur ein Fenster öffnen, ein reales oder eins meiner Seele. Und das tat ich oft, ohne je traurig dabei zu werden. Ich sah in den Lichtermeeren glückliche Menschen. Niemanden, der einem anderen weh tat. Niemanden, der dem anderen etwas neidete.

Es war nicht schlimm, dass ich keinen von ihnen kannte. Die Lichter waren da, die strahlenden, vibrierenden Linien der Straßen, die angestrahlten Häuserfassaden, die vielen funkelnden Punkte auf und über ihnen. Menschen und Sterne.

Ich war ein Junge im Teenageralter als ich all das sah und ich lebte in einem Land, das heute für ein dunkles, graues gilt, ein kaltes, graues Gefängnis.

Heute lebe ich in und mit den Lichtern. Und ich habe erfahren, dass es die schöne einsame Freiheit in ihnen gar nicht gibt. Dafür Leid und Neid. Und Glück nur als Maskerade einiger Weniger, die nicht imstande sind zu empfinden, was wahrhaftes Glück ist.

Ist es bizarr oder ist es logisch, dass ich die Freiheit, die nichts forderte und niemanden beeinträchtigte, nur aus jenem grauen, dunklen Land herausschauend sehen, wahrnehmen und spüren konnte? Kann es sein, dass da, wo immer Licht ist, das Helle erst unsichtbar wird und dann verschwindet, die Menschen aber geblendet bleiben?

Jetzt, wo meine Teenagerjahre eine immer ferner werdende Erinnerung sind, sehe ich so unendlich viele Geblendete, die den fließenden Lichterströmen folgen und letztlich gar nichts anderes mehr tun.

Nein, ich wünsche mir dennoch das graue, dunkle, kleine Land nicht zurück. Nicht nur, weil ich im Lauf der Zeiten verstanden habe, dass mein damaliges Freiheitsempfinden aus großer Naivität geboren war, zu der man in jenem Land wohl erzogen wurde.

Aber  wahrnehmen, spüren und fühlen würde ich sie nur allzu gern noch einmal, und sei es ein einziges Mal nur noch, diese schönste einsame Freiheit meines Lebens.

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Zu ihr komme ich immer wieder zurück. Zu der kanadischen Sängerin und Songschreiberin Flower Face, von der ich wohl schon zwei oder drei Lieder hier geteilt habe. Sie und ihre Musik, die Texte ihrer Lieder und deren Atmosphäre faszinieren und begeistern mich immer aufs Neue. Wieder einmal ein besonders schönes Werk ist ihr aktuell neuestes:

Flower Face – „Pisces Moon“

Sammelsurium -125- (Sechs Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Die gegenwärtigen Zeiten lassen mein Gedankenkarussell immer und immer schneller kreisen. Einiges dessen, was ich dabei erdacht habe, ist wieder in kleine Notate geflossen, die ich nun meinem Tagebuch und jenen, die darin mitlesen, anvertraue:

Letztlich wird und  ist man doch immer von Menschen enttäuscht. Eine andere Art der Enttäuschung gibt es gar nicht.

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Schuld von Einem ist die Absolution für alle Anderen. Es sei denn, von diesen Anderen hat da noch jemand Fragen oder gar eine abweichende Meinung. Der ist dann auch schuld. So einfach ist das.

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Man kann an den eigenen Tränen ertrinken. Vor allem, wenn es immer wieder viele sind und man sie überwiegend nach innen rinnen lassen muss.

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Das neueste, das aktuellste Problem ist heutzutage jeweils immer das einzige. Was die anderen betrifft, sorgen vor allem die Medien, aber auch wir selbst regelmäßig für kollektives Verdrängen und Vergessen. Das ist freilich ein ganz fatales Verständnis von Selbstfürsorge.

*

Was macht am Ende den Wert des Daseins von einem aus, der mutmaßlich nie gewusst hat, was im Leben „richtig“ ist?

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Wenn nur erst ein Schuldiger gefunden ist! Dann braucht es weder Reflexion noch Eingeständnis von eigenen Fehlern, eigenem Versagen und unzureichendem eigenen Verantwortungsbewusstsein in der Vergangenheit.

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Schnipsel (22)

Längst hatte sie ihr Buch geschlossen und neben sich auf die Bank gelegt. Sie bemerkte kaum noch, wie der Wind sanft über ihre Haut strich und die letzten Sonnenstrahlen des Tages noch ein bisschen Wärme und Farbe in ihr junges Gesicht zu malen versuchten.

Ihr Blick war nun schon lange in eine unbestimmbare Ferne gerichtet. Und in ihren Augen glitzerte etwas von jenem Wasser, dessen Quellen  die Leere am Ende wiederkehrender Alltage, die Einsamkeit nach fruchtlosen Auseinandersetzungen, die Sehnsucht nach dem Erfahren des Zerbrechens aller Träume und die Trauer, die mit Verlorengehen von Geliebtem und Gewünschten und schließlich von sich selbst einhergeht, sind.

Nie war sie ratloser und verzweifelter gewesen, nie so sehr in Ohnmacht. Und nie war ihr aller Sinn so umfassend abhandengekommen, wie am Ende dieses Tages.

Der Gedanke, dass auch ein junges Leben, an jedem Tag sein Ende finden kann, war ihr noch nie so nah, so bewusst und so selbstverständlich gewesen.

Viele Minuten waren wohl so verstrichen, als irgendwann das Geräusch sich verlangsamender kurzer Schritte in ihr Bewusstsein drang. Schritte eines kleinen Mädchens mit einem Rucksack, die soeben verklangen, weil das Mädchen sich auf den Boden vor seinen Rucksack gekauert hatte, um ihm zwei Äpfel zu entnehmen. Den größeren, schöneren hielt sie ihr, aus deren Augen sich gerade zwei Tränen gelöst hatten, hin und mit einem schüchternen, aber strahlenden Lächeln sagte es: „Bitte, der ist für dich. Damit du nicht mehr so traurig bist.“

Sie wischte etwas unbeholfen die beiden Tränen weg und schaute das kleine Mädchen etwas ungläubig an. Aber sie wusste in diesem Augenblick, dass, wenn alles nichts mehr galt, nichts mehr wert war und sinnlos schien, immer noch grundehrliche Aufrichtigkeit aus dem spontanen Lächeln eines Kindes geboren werden würde. – Vielleicht war dies die einzige Aufrichtigkeit.

Und so lächelte sie zurück und dankte der Kleinen. Für die beiden Geschenke …

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Silly Boy Blue alias Ana Benabdelkarim ist 26 Jahre alt. Sie wurde 1996 in der Stadt Nantes in Frankreich geboren. Ana widmet sich dem Schreiben ihrer eigenen Songs, nachdem sie sich im Alter von 19 Jahren seine Sporen als Sängerin, Keyboarderin und Bassistin bei der Band „Pegase“ verdient hatte.

Ihr Künstlername „Silly Boy Blue“ geht auf den Song „Silly Boy Blue“ von David Bowie zurück. Seit ihrer Kindheit hört Ana Benabdelkarim David Bowie-Songs.

Silly Boy Blue ließ ihrer Debüt-EP „But You Will“ im Jahr 2018 eine Reihe Hits im Jahr 2020 folgen, mit denen sie ihren ätherischen Indie-Pop-Sound weiter pflegte und entwickelte.

Das Stück „The Fight“ stammt von ihrer Debüt-EP:

Silly Boy Blue – „The Fight“

Sammelsurium -124- (Zehn Sprüchlein und ein Lied)

Manchmal schreibt das Leben nicht nur Geschichten, sondern auch Sinnsprüche. Oder Geschichten mit Sinnsprüchen.

Während der etwas ruhigeren Tage zwischen den Jahren habe ich einen spontanen und keinem bestimmten Weg folgenden Streifzug durch mein Blogtagebuch unternommen. Es wurde eine einigermaßen lange und ziemlich emotionale Reise daraus.

Ich habe viele sehr inhaltsreiche, emotionale und Emotionen hervorrufende Einträge gefunden, die mich in Zeiten und Empfindungszustände zurückgeführt haben, so, dass ich sie erneut als ganz, ganz nah und unmittelbar empfunden habe. Tendenziell habe ich ungeachtet aller immer auch dagewesenen dunklen Phasen, Abschnitte und Gefühle immer wieder schön geschrieben. Viel mehr und öfter, als ich das zuletzt getan habe und heute tue. Schön meint dabei nicht inhaltsleer, viel mehr: schön zu lesen.

Ich glaube, dass ich nicht anders kann, als aus Stimmungen herauszuschreiben. Jedes Bild ist von Stimmungen inspiriert, spiegelt Stimmungen wider, vermittelt Stimmungen und lässt beim Betrachter Stimmungen entstehen. Mit Texten und Versen ist es wohl ebenso.

So sind all meine kleinen Geschichten, Essays, Skizzen und Gedichte aus Stimmungen des Lebens heraus geschrieben. Und manches darin ist, wie ich auf meinem Streifzug gefunden habe, tatsächlich zu ein bisschen „aphoristischen“  Aussagen bzw. Gedanken geworden, ohne, dass das beabsichtigt war, einfach während des Schreibflusses entstanden.

Ein paar Bespiele dafür, die mich meistens während des Lesens nun selbst überrascht haben, habe ich im heutigen „Sammelsurium“ einmal in loser Folge zusammengestellt:

Schönheit aus Irrtum kann … tatsächlich zur letzten Phase der Geschichte der Schönheit werden. (17.06.2018)

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Nichts ist für die Ewigkeit, manches nicht einmal für eine ganz kleine. (14.06.2018)

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… die Wahrheit, dass auf einen menschlichen Sommer, sei er gewesen, wie er war, heiß oder kalt, sonnig oder wolkenreich, kein zweiter folgen wird, ist unabänderlich. (30.08.2016)

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Jeder reist, doch jede Reise ist eine andere. Mensch, Ausstattung, Mittel, Weg, Ziel – nichts ist gleich. Nur Anfang und Ende sind es, Geburt und Tod. (11.08.2016)

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Wenn die eigene Haut dünn wird, dann braucht es eine andere, eine zweite. (13.11.2019)

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Wer intensiv, sich bewusst Zeit nehmend, mit einer gewissen Tiefe schreiben möchte, muss ein bisschen einsam sein. (29.07.2015)

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Ich vermag es nicht, einfach so vor mich hin zu leben. Unter anderem deshalb hat und ist Schreiben für mich Lebenssinn. (23.07.2015)

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Ein Mensch muss anderes hinterlassen haben als seinen Grabstein. Sonst ist er unweigerlich früher oder später vergessen. So, als ob es ihn nie gegeben, er nie gelebt hätte auf Erden. (24.03.2020)

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Solange aber der Planet am Leben ist, werden auch die Jahreszeiten da sein, und wie er, eine Einladung an die Menschen, jede mit ihrer eigenen Botschaft. Immer und immer wieder. Ob Frieden ist oder Krieg, ob Gier beherrschend ist oder Demut. Ob frohe Gemeinschaft lebt oder Agonie fortschreitet. (20.03.2020)

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Schuld sind allein Menschen. Menschen mit Bewusstsein. – Wirkliche Schuld ist bewusste Schuld. Bewusste Schuld bleibt und wird nicht unbewusster, wenn sie verdrängt wird. Schon gar nicht, wenn auch das bewusst geschieht.

Schuld ist eine allein und rein „menschliche“ Kategorie, eine allein menschliche Eigenschaft. So wie Hass, wie Geiz, wie Gier und Neid. Wo diese Eigenschaften sind, kann keine Unendlichkeit sein. Wo sie sind, ist kein Platz für irgendetwas anderes. (16.03.2020)

*

Alex Mayr ist eine deutsche Sängerin und Songschreiberin.  1985 in Niedersachsen, nahe Bremen, geboren, lernte sie bereits mit sieben Jahren Geige spielen. Später studierte sie Popdesign. Heute gilt sie als Multiinstrumentalistin, deren Lieder, die, jedes für sich, ihren ganz eigenen, von Vielfalt geprägten Musikstil spiegeln, von sehr bildhaften, ehrlichen, bisweilen auch auf besondere Art speziellen Texten begleitet werden. Bisher sind zwei Alben von ihr erschienen, das Lied „Ausgang“, das ich heute hier teile, und das am Ende gar eine kleine Rap-Passage enthält, beschließt das zweite Album, das den Titel „Park“ trägt:

Alex Mayr & Maeckes – „Ausgang“

Sammelsurium -123- (Sechs Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Mit etwas Erstaunen habe ich bemerkt, dass dieses hier erst das vierte „Sammelsurium“ ist, das ich in diesem Jahr in mein Blogtagebuch schreibe.

Was ist das für ein Jahr, das selbst die kleinen Sentenzen verschluckt, die ich doch immer in meinem Kopf trage, die schnell geborenen Gedanken, die ich weiterdenken möchte, die kurzen Texte, die aus der Situation heraus entstehen? Was ist das für eine Zeit, die mich so ruhelos sein lässt, dass ich am Ende selbst der Wind bin, der das zerstäubt, was ich doch gern geschrieben festhalten möchte?

Immerhin: Hier und heute sind wieder ein paar Sprüchlein aus der Werkstatt, die den Orbit meiner Gedanken pflastert, und auch eine kleine Episode, die erst heute geschah:

Die viel lesen werden nur von jenen verstanden, die viel lesen.

*

Von Geschlechterrollen zu sprechen ist Grundform und Ausdruck von Diskriminierung.

*

Wahre Schönheit ist nicht an das oder die Moderne gebunden. Ihre Eigenschaft steht über aller Zeit und über jedem Urteil. Und sie ist ausschließlich durch Fühlen erkenn- und erfahrbar.

*

Der Hohlraum der Dummheit ist und bleibt größer als der aller Bücherschränke zusammengenommen.

*

Eine Farbe mag bezogen auf einen Menschen ein Adjektiv sein, niemals aber ein Eigenschaftswort.

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Eine Zeit, in der zeitlose Schönheit verkannt, geopfert oder vergessen wird, führt in eine düstere und arme Zukunft. Fatalerweise unbemerkt und ignoriert von jenen, die verkennen, opfern, vergessen, die freilich ach so viele sind …

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Schnipsel (21)

Sie ist stiller als sonst. Und ihr gelingt nicht mehr alles, so, wie es ihre Umwelt gewohnt ist von ihr. Sie verlässt Räume öfter und scheinbar unvermittelt, die sie sonst nicht verlassen hat. Sie kann nicht anders.

Sie, die obwohl so jung an Jahren, immer so organisiert die Tage ihres Lebens angeht und meistert, die sich engagiert und motiviert ist, die so gern lacht und immer einen Blick für andere Menschen hat, immer wieder auch für jene, denen es nicht so gut geht.

Sie, deren Interessen vielfältig sind und deren Sprache in geschriebenen Lettern eine so schöne ist, wie nur ganz wenige Menschen ihres jungen Alters sie ihr Eigen nennen können.

Ja, sie ist stiller als gewöhnlich, scheint manchmal nicht dort zu sein, wo sie gerade steht oder sitzt. Es fällt ihr plötzlich schwer, sich zu konzentrieren und ihr unterlaufen Fehler, die so wirken, als wären sie nicht ihr unterlaufen.

Als ich sie heute vorsichtig ansprach, dass es ihr doch wohl gerade nicht so gut gehe, nickte sie und sprach leise: „Ja, das stimmt.“ Ich sagte ihr, dass ich das irgendwie gespürt habe, während der letzten Tage. Denn wir sehen uns jeden Tag, haben miteinander zu tun, meistens mehrere Stunden lang. In der Schule, wo sie eine Schülerin der Klasse ist, deren Lehrer ich bin.

Aus meinem Empfinden geboren, eine Frage in ihren Augen geschrieben stehen zu sehen, sagte ich, dass ich da wäre, um zuzuhören, wenn sie das möchte, da wäre, dem, was ihr die Zeit gerade so schwer mache, Beachtung zu schenken, besonders rücksichtsvoll zu sein und all dies vertraulich zu tun.

Sie schaute mich an, ihre Augen wurden größer, währenddessen das Fragezeichen aus ihrem Blick verschwand, und ich hörte nach einer kleinen Pause ein leises „Dankeschön“ aus ihrem Mund, das wie ein Seufzer klang, ein Seufzer der Erleichterung. Ein Seufzer, der mehr sagte, als jede Antwort hätte sagen können auf jede weitere Frage.

Und so fragte ich nicht weiter. Und es war in Ordnung so.

Für heute war alles gesagt.

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„Die Veröffentlichung des Albums „See How The Light Falls“ der Künstlerin Big Fox war ursprünglich für Mai 2018 angedacht. Wenige Wochen vor diesem Termin erhielt die Sängerin Charlotta Perers jedoch eine Krebsdiagnose, woraufhin die musikalische Aktivität zweitrangig und die Veröffentlichung auf unbestimmte Zeit zurückgehalten wurde. …

Charlotta hat die Krankheit mittlerweile glücklicherweise besiegen können und sich dazu entschlossen, ihr Album im März 2020 herauszubringen. …

‚See How the Light Falls‘ zeigt eine musikalische Weiterentwicklung Charlotta Perers‘, welche stimmlich im Kosmos von Cat Power anzusiedeln ist. Der in Schweden sehr renommierte Produzent Tom Malmros … hat Big Fox geholfen, aus der Schublade des charmanten Frauenpop zu entwachsen.“  (Quelle: https://backseat-pr.de/artists/big-fox)

Hier ein besonders schönes Lied aus dem Album:

Big Fox – „Beast“

Sammelsurium -122- (Fünf Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Meine Liste und Sammlung aus dem eigenen Gedankenwirrwarr geronnener Sinnsprüche erweitert sich beständig. Auch für den Beginn dieses Sammelsuriums habe ich wieder ein paar herausgesucht:

Für so viele, die sich einmal aufgemacht haben, erweist sich kein Weg als langwieriger und schwieriger als der zu sich selbst.

*

Wenn still zu feiern immer weniger gesellschaftsfähig wird, zeugt das von einer Veränderung in der gesellschaftlichen Kultur, die im Mindesten nachdenklich machen sollte.

*

Soziale Medien sind so wenig sozial, wie die sozialen Wesen, die sie bevölkern. Sie werden nur „so genannt“, was geflissentlich aber von niemandem erwähnt wird.

*

Abendgedanken, die davon sprechen, wieder einen Tag überstanden zu haben, beschreiben letztlich ein Stück verlorenes Leben.

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Influencer sind die Ideologen der Gegenwart: Nicht weniger hinterfragenswürdig als jene, vergangener Zeiten und Gesellschaften. Im Gegenteil, seitdem mit dem Influencen unmittelbar Geld verdient werden kann …

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Schnipsel (20)

Vom einem letzten Sieg der Liebe

Es geht ihm nicht um Sex, es geht ihm um Geborgenheit, ein Streicheln, eine Umarmung darum, sich aneinander anlehnen zu können, eine immer noch geliebte Hand zu halten. Aber es ist wohl so, dass er das nicht mehr verdient hat. Wenn sonst nichts ist, dann eben auch keine noch so kleine körperliche Geste mehr. Dann eben gar nichts.

Dass kein Sex mehr ist, schon viele, viele Jahre nicht mehr, schreibt sie ihm zu. Ein bisschen akzeptiert er das sogar.

Es gab eine Zeit, wo sehr viel passierte, Dramatisches, zwischen Leben und Tod des Kindes, dass sie sich wünschten. Das Kind wurde schließlich doch noch gesund auf die Welt geholt. Es vergingen Monate und Jahre und er war und blieb überfordert mit dem was und wie es geschehen war. Sie blieben uneinig darüber, wie es weitergehen sollte. Dass das so war, so blieb, schreibt sie auch ihm zu. Vielleicht ist das sogar richtig so.

Er war nur unsagbar erleichtert und froh, dass es gut ausgegangen war seinerzeit, empfand es als das größte Geschenk und schließlich wollte er damit zufrieden sein. Sie aber war es nicht.

Aber sie sprach nicht darüber, bis es dann irgendwann als Vorwurf aus ihr herausbrach. ER habe entschieden.

So war, so ist, die „Strafe“ wohl nur gerecht.

Leben an der Seite von geliebten Menschen und bestraft zu sein und zu bleiben, ist nicht leicht. Unter Fremden zu leben, ohne je ein bisschen körperliche Nähe zu bekommen, mag schon schwer sein, unter geliebten Menschen ist es wie eine seelische Folter. – Es aushalten zu müssen ist ein großer zusätzlicher Kampf, je länger, desto härter, je aussichtsloser, desto entmutigender. Für ihn, der so sehr, wohl so „besonders“ für einen Mann, Gefühlsmensch ist.

Ob es für sie auch so ist? Er kann es sich nicht vorstellen.

Er zeigt ihr, dass er da ist, immer noch, zum Anlehnen, zum Zuhören und Umarmen, zum Streicheln. – Alles, was sie ihm zeigt, ist, dass es ihr egal ist, ihr wohl nichts mehr bedeutet. Es ist nicht das, was sie wollte. Und ER hat ja entschieden.

Sie ist alle zwei, drei Wochen fort, für ein Wochenende. Seit ein paar Jahren schon. Zuerst fuhr sie nur sporadisch, jetzt regelmäßig. Früher hatte es mit Arbeit zu tun, heute spricht sie nicht mehr darüber. Er mag ihr nichts unterstellen und er hat für sich beschlossen, auch kein Recht dazu zu haben.

Er selbst war ihr immer treu, ist ihr immer treu. Unter allen Gegebenheiten und Bedingungen, auch denen, die er seit einigen Jahren wie seelische Folter empfindet. Er kann nicht anders.

Es ging und geht ihm nicht um Sex. Es ging und geht ihm immer nur um Liebe.

Glücklich geworden ist er so nicht. Und er wird es auch nicht mehr werden können.

Für die Liebe lebt er dennoch weiter. Und je weniger er selbst bekommt, desto mehr möchte er sie Anderen nahebringen. Ohne jede Bedingung. Solange seine Kraft, die der Alltag ihm lässt, noch reicht …

Das ist der Sinn seines Lebens, dessen, was (als) Leben für ihn geblieben ist.

***

Wieder einmal habe ich eine Künstlerin „entdeckt“. Ich hörte ein Lied von ihr und war augenblicklich fasziniert. Von der Stimme, von der Melodie, von der Atmosphäre, die Musik und Arrangement für mich erlebbar werden ließen. Auf der Webseite der in Berlin lebenden, deutschen Sängerin und Songschreiberin Ava Vegas (so ihr Künstlername), die eine sehr interessante Biografie hat, heißt es unter anderem:

“ … in den Liedern von Ava Vegas (fliegt) etwas Herrliches durch die Nacht, etwas Glänzendes, sichtbar in einem glitzernden Licht, das sich in Pailletten spiegelt, zugleich umhüllt von einer unausweichlichen Dunkelheit. Hart, weich, frohlockend, zu Tode traurig. Die Musik ist wie eine Aufzeichnung jenes Zustandes, in dem man erkennt, dass die Welt, nach der man sich sehnt, nicht existieren kann. Verliebt, verlassen, ekstatisch, traurig. Und doch kann diese Welt existieren. Es klingt und hallt in der Musik von Ava Vegas wider …“

Diese Zeilen könnten aus mir geschrieben sein, wenn ich denn Lieder schreiben könnte. Ava Vegas kann das. Und das ist jenes Lied, das ich von ihr hörte, eine Single von ihrem Ende 2020 erschienen ersten Album:

Ava Vegas – „Hold on to your stars“

Sammelsurium -121- (Sechs Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Es ist ein bisschen her, seit ich aus dem Alltag, meinem Erleben und Empfinden geronnene Gedanken als  Aphorismen in mein Tagebuch geschrieben habe. Nun haben sich wieder ein paar angesammelt und dazu noch eine kleine Philosophie, über den, der unser aller Lebensraum ist, buchstäblich. Über den Tag … :

Wohlstand und Missgunst sind direkt proportional wachsende Verwandte. Egal, wie man es dreht.

*

Letztlich ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, was einmal versäumt wurde, für immer versäumt. Das erscheint nur deshalb so unglaubhaft, weil es so selten eingestanden wird.

*

So vieles, was gar nicht real ist, ist so schrecklich wirklich.

*

Die „Weisheit“, wonach ein jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, ist vor allem eins: zynisch.

*

Schließlich sind es der einzige Auftrag und die einzige Herausforderung eines jeden menschlichen Lebens auf dieser Welt, man selbst zu werden, zu sein und zu bleiben, zum Nutzen nicht nur für sich selbst und vor allem, ohne einem anderen menschlichen Leben Schaden zuzufügen.

*

Es  ist erbarmungslos wahr, aber es sind vor allem Enttäuschung und Frustration, Entbehrung und Leid, die den Menschen tief zu sich selbst führen, ihn sich seiner selbst bewusst werden lassen. Mit allen nur erdenklichen Folgen …

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Schnipsel (19)

Tag

Ich lebe in dir, während du an mir vorbeiziehst. Du bleibst bei mir, wenn du längst schon wieder gegangen bist.

Lässt Spuren zurück, die Gedanken werden und Emotionen, die Worte suchen, Lieder und Bilder und Menschen, die mich der werden und sein lassen, der ich morgen bin, wenn ich wieder in dir lebe, dir, einzige Dimension, in der ich leben darf und kann und muss.

So ungleich du bist, so ähnlich bist du dir. Gestern, heute, morgen. Monotonie des Abwechslungsreichtums, sich wandelndes Stereotyp. Mit allem, was dich einschließt und allem was du umfasst.

Du bist so selten, was du bist, viel mehr und öfter das, was andere aus dir machen. Auch für mich.

Ob ich das will oder nicht.

***

Da hörte ich doch zuletzt einen Grönemeyer, wie ich ihn bis dato nicht kannte. Und vernahm sogleich, dass sich an eben diesem Lied so manche Geister schieden.

Ja, es ist ein anderer Grönemeyer, auch als der, den ich so kenne. Und ich bin wirklich kein Tänzer, aber dieser Tango (!)  hat mich irgendwie verzaubert. Und den Text finde ich, so trivial er „aufs erste Ohr“ daherzukommen scheint, dann doch wieder intelligent. Und das Video …, ach, das mag sich ein jeder selbst ansehen.

Für mich jedenfalls ist es, auf ganz eigenartige und eigensinnige Weise, ein besonderes Lied. Und darum teile ich es hier:

Herbert Grönemeyer – „Der Held“

Sammelsurium -120- (Sieben Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Meine heutige „Sprücherunde“, die wie immer eine Einladung zum Lesen, Diskutieren, Zustimmen oder auch Widersprechen sein möchte, ist insoweit eine Premiere, als alle meine Aphorismen sich diesmal mit einem Thema befassen, in diesem Fall dem Thema „Tränen“. Auch der anschließende kleine Beitrag aus meiner Reihe „Schnipsel“, der durch eigenes Erfahren inspiriert entstanden ist, greift dieses Thema auf. Hier aber zunächst einmal die Sprüchlein:

Der innerlich weint, weint ohne jede Scham. Denn da ist nur er selbst. Und wie zerbrechlich auch immer, ist er sich doch der letzte Freund. Für Tränen vor einem Freund aber schämt man sich nicht.

*

Salz, das süß ist? – Das der Freudentränen!

*

Keine Tränen (mehr) zu haben, bedeutet nicht, ausgetrocknet zu sein.

*

So oft sind es gerade die wunderschönen Bilder, Texte und Klänge, die, wenn sie auf die Sehnsucht eines Menschen treffen, zu Tränen werden.

*

Keine Träne ist vergossen. Das ist einfach nicht wahr.

*

Auch wo Tränen rinnen, ist ein Flussbett und sind also auch zwei Ufer.

*

Die still geweinten Tränen, sind die, die am lautesten rufen.

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Schnipsel (18)

Sie reisten nun alle wieder an ihm vorbei: der Fluss, die Berge, die Wiesen und die Wälder. Blieben hinter ihm zurück, während er aus dem Fenster schauend, im Zug saß, der ihn dorthin zurückfuhr, von  wo er vor ein paar Wochen hierhergekommen war.

Immer wieder war es so gewesen, Jahr um Jahr. Und immer wieder war er traurig und voller Sehnsucht gewesen, noch im letzten Augenblick der Gegenwärtigkeit des Wassers und der Höhen, der Düfte und der Melodien, und dies Fühlen blieb als aus der Gegenwart Erinnerung wurde und verging nie wieder ganz.

Aber immer war da dennoch Hoffnung gewesen, die auf Vertrauen wachsen konnte, dass er wiederkommen würde. Und dann kam er auch immer wieder.

Beim letzten Mal aber war da nichts mehr, worauf sich Vertrauen bauen ließe. Und obwohl er noch nicht wissen konnte, das dieses Mal tatsächlich das letzte sein würde, rannen ihm das erste Mal Tränen über das Gesicht, während der Zug seine Reise begann.

Und nun weiß er: Wenn zum Abschied Tränen rinnen, verlässt man ein Stück Heimat. Fluss, Berg, Wald, Mensch. Manchmal für immer.

***

Es ist still und stiller geworden um Birdy, jene englische Sängerin mit der besonderen klaren und eindringlichen und zugleich sanften und schwebenden Stimme, die vor Jahren, selbst gerade einmal 15, 16, 17 Jahre jung, mit Liedern wie „Skinny Love“, „People help the People“ oder „Wings“ lange und weit oben in den Charts platziert war.

Heute ist sie 24 und singt mindestens ebenso schöne, wenn nicht noch schönere Lieder, und wird doch nur noch vergleichsweise wenig gehört. Ein Beispiel ist ihr neuester Titel, mit einem Text, in dem ich mich sehr wiederfinde und einer sehr schönen Melodie. Und Birdy singt zauberhaft:

Birdy  – „Surrender“

Sammelsurium -119- (Vier Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Ich öffne diese Seite meines Tagebuchs für ein Vorweihnachtsabendsammelsurium. Sprüchlein finden sich darin, wie in vielen meiner Sammelsurien, ein Schnipsel, zu dem meine Inspiration denn doch dem gegebenen Anlass entsprang und, wie immer, ein Lied:

Die besten Ideen kommen immer dann, wenn Stift und Papier am weitesten entfernt sind.

*

Das Besondere und Wesen der Nächstenliebe sind, dem nächsten Menschen, der uns begegnet, ohne Ansehen seiner Person, Liebe zu schenken. Denn dem, der uns nahe steht, schenken wir sowieso und immer davon.

*

Im Leben geht es immer wieder und immer mehr ums Verkaufen. So mancher verkauft im Zeitenlauf gar nach und nach sein Leben. Schlimm, wenn er das nicht einmal bemerkt. Tragisch aber, wenn er erkennt, dass es längst ausverkauft ist, ohne dass sein Ende schon gekommen wäre.

*

Wenn es um Inspiration geht, ist ein aufgeräumter Schreibtisch eher hinderlich.

*

Schnipsel (17)

“ …“

Die Zeit der Weihnacht und der sich anschließenden Raunächte ist  für mich mehr denn alle andere Zeiten des Jahres, Zeit tiefer und intensiver Gedankenreisen. Sie ist es, weil sie am wenigsten vom Alltag gestört wird. Und sie ist es, weil sie mich am stärksten die Gedanken, die Sehnsüchte, die Träume anderer Menschen spüren und erahnen lässt.

So viele dieser Sehnsüchte, Wünsche und Träume finden sich in einsam hinter Mauern oder Zeltbahnen, hinter Bretterverschlägen oder unter bloßem Himmel seienden Menschen. Und weil diese Menschen einsam sind, haben ihre Wunschträume kaum etwas mit materiellen Dingen zu tun. Einsamkeit gebiert immer zuvorderst das Sehnen nach Nähe einer Seele. Einer Seele, die nicht imaginär bleibt, einer Seele, die in einem anderen Menschen wohnt.

In heutiger Zeit ist es gewagter und riskanter denn je, Gedanken sich materialisieren zu lassen.

Dennoch wünsche ich mir gerade jetzt, ganz besonders in diesen Tagen, dass die Gedanken, die Träume der Einsamen sichtbar würden, weil die meisten der einsamen Menschen sonst unsichtbar sind. Als Bahnen sanften Leuchtens aus ihren Herzen tretend, hinter den Mauern, Zeltbahnen, Verschlägen  und provisorischen Behausungen unter freiem Himmel hervorscheinend und Strahlen bildend, die eine lange Spur in die Welt hinein zeichnen und von denen sich unweigerlich dieser mit jenem und jener mit einem anderen treffen und kreuzen und sich also berühren und vereinen würden.

So, dass die vielen Einsamen es sehen könnten, einander sehen könnten, sehen könnten, dass und wie sehr sich ihre Träume und Sehnsüchte berühren und so einander erkennen und finden. Ohne Furcht, dass der- oder diejenige, der die Berührung durch den anderen Traum erfahren hat, diesen nicht nachvollziehen, nicht verstehen würde.

Was für ein wundervolles Lichtermeer von Schweifen sich begegnender, berührender und sich vereinender Träume, Hoffnungen und Wünsche das wäre!

Aber die Bahnen der Träume und Sehnsüchte der Einsamen vermögen nicht zu leuchten, nicht von allein. So sehr sie auch brennen in denjenigen, die sie in sich tragen.

Es braucht Menschen, Seelen, die sie erahnen, erspüren können, die um sie wissen, auch wenn ihre Bahnen unsichtbar bleiben: Menschen, die den ersten Schritt auf sie zu machen, die sich Zeit nehmen, hinter die Mauern, die Bretterverschläge, die Zeltbahnen, unter die klammen Decken, die unter dem bloßen Himmel liegen, schauen. Die einen Blick senden, der nicht urteilt und nichts fordert, der nur eine sanfte Einladung ist, die ein Ohr geben, das zuhört, die ein bisschen Zeit und Rücksicht und Nähe schenken. Seelennähe.

Wenn es so wäre, wäre da, wo solches geschieht, Weihnachten, egal um welche Zeit. Und es würde leuchten überall dort.

**

Im Sinne der letzten Zeilen meines Textes wünsche ich allen, die mein Blogtagebuch und mich begleiten, allen Menschen, die ich im Herzen trage und vor allem den vielen Einsamen eine schöne, freudvolle, besinnliche und gesunde Weihnacht.

***

Das folgende Lied habe ich in meinem Tagebuch schon einmal geteilt, das ist inzwischen mehr als sieben Jahre her. Ich hatte seinerzeit dazu die folgenden Worte geschrieben:

Das Lied, das ich heute vorstellen möchte, … ist einfach ein wundervolles Liebeslied, mit einem schönen, intelligent geschriebenen Text und einer einzigartigen Kombination aus eingängiger aber nicht kitschiger Melodie, gelungenem Arrangement und der unverwechselbaren und für dieses Lied im Besonderen passenden Stimme der Interpretin.

Das Stück erschien 1976 als Single und landete auf Platz 10 der Jahreshitparade in der DDR. Allerdings sagt das eigentlich gar nichts. Das Lied spricht viel mehr für sich selbst.

Dem ist an sich nichts weiter hinzuzufügen, außer, dass das Lied durchaus gut in die Zeit jetzt passt, die vorweihnachtliche, die weihnachtliche, die zwischen den Jahren, in denen es ja doch auch viel um Erinnerungen geht. Und die Vision von einer Schneeflocke, die ein Mensch ist und einen anderen berührt, die passt sogar zu meinem Text da oben.

Veronika Fischer – „Dass ich eine Schneeflocke wär‘ „

Sammelsurium -118- (Sechs Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Wieder einmal ist ein bisschen Zeit für ganz eigene Aphorismen und Gedanken gewesen, schließlich geflossen in Lettern auf diese Seite als Sprüchlein und Schnipsel. Ein Sammelsurium von Vielem, was mich gegenwärtig umtreibt. Wie immer, zum Lesen, zum Sinnen, zur Zustimmung oder zum Widerspruch … :

Wirklich Friede ist nur, wo keine Menschen sind. Deshalb glaube ich an kein Paradies.

*

Die Potenz, am klügsten sein zu können, bedingt die Potenz, die größten Dummheiten begehen zu können, in sich zu tragen. Die menschliche Existenz beweist das an jedem Tag, in jeder Stunde, während jedes Augenblicks.

*

Aufrichtig nach Wahrheit zu suchen, bedeutet, niemals damit aufhören zu dürfen.

*

Alles im Leben ist nur eine Episode. So wie das Leben selbst.

*

Die vielen kleinen, für uns vermeintlich so wichtigen materiellen Werte und Dinge in unseren Wohnungen, Zimmern, Haushalten, haben nicht einmal die Halbwertzeit unseres eigenen Lebens. Wer einmal eine Haushaltsauflösung einer Wohnung eines Menschen, der infolge Krankheit oder Tod sein Heim fortan nicht mehr zu bewohnen imstande ist, erlebt hat, weiß, was ich meine.

*

Jede Farbe ist letztlich vergänglich. Die Dunkelheit ist es nicht. Sie ist, was bleibt, wenn sonst nichts mehr ist.

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Schnipsel (16) –

Sand in den Augen

Es geschah jedes Mal, sie konnte nichts dagegen tun. 

Solange sie bei sich wohnte, konnte sie sehen, hören fühlen. Dinge und Menschen waren klar oder undurchschaubar. Sie konnte es unterscheiden und damit umgehen, hatte Worte, Gedanken, Gesten und Taten für diese und dieses und jene und jenes. Und sie war nicht allein, fand andere Menschen, mit denen sie in Dialog treten konnte und von denen sie sich verstanden fühlte.

Öffnete sie aber die Tür ihres Heimes, dann tobte draußen immer ein Sturm, der Sandwolken vor sich hertrieb, so groß, dass eine stets in die andere überging und die Welt sich in einem unsteten Grau zeigte. Jedes Sandkorn war eine Stimme, ein Schicksal, eine Ansicht, war ein Mensch. Keines war dem anderen gleich und ihre Stimmen verschmolzen zu einem schaurigen Heulen, in dem kein einzelnes Word, keine einzige Melodie, mehr vernehmbar war.

Der Sturm war mit den Jahren immer stärker und heftiger geworden, seine Geschwindigkeit hatte zugenommen und nahm immer weiter zu, und also auch seine Zerstörungskraft und die Lautstärke seines Geheuls.

Immer wieder hatte sie versucht, ihre Tür zu öffnen, war ein Stück hinaus getreten, hatte ein paar der Sandkörner aufgefangen und versucht, ihnen zuzuhören, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen, ihnen Hilfe und Unterstützung zu sein. Sie hatte es aber immer nur für Augenblicke vermocht. Je stärker der Sturm wurde, desto kürzer wurden diese Momente, desto entkräfteter kehrte sie in ihr Heim zurück. Manchmal von ein paar Sandkörnchen begleitet, von denen freilich etliche beim nächsten Versuch, die Tür erneut zu öffnen wieder mit hinaus in den Sturm gesogen wurden, manchmal werden wollten. Nur sehr wenige blieben.

Kürzlich hatte sie wieder einmal die Tür aufgetan, ohne zu ahnen, dass es das letzte Mal gewesen sein würde. Gerade so hatte sie sie schlussendlich noch einmal schließen können.

Seither sitzt sie in ihrem Heim, mit Sand in den Augen, in den Ohren und den Poren ihrer Haut. Er sitzt fest, weil der Sturm so stark war. Und so ist es nun so, dass der Sturm auch bei ihr ist,  in ihrem Heim, in ihr selbst, und, dass er nicht mehr geht, dass er bleibt.

Sie muss mit ihm leben, mit geschundenen Augen,  verklebten Ohren, verletzten Händen  und braucht nunmehr unendlich viel Kraft, um dennoch weiter zu sehen und zu unterscheiden, zu hören und zu differenzieren, und zu handeln, endlich auch ein bisschen mehr für sich und die, die bei ihr blieben. Dies ist und bleibt ihr Wille.

Wie sie da nun so sitzt, ist sie trotz allem, was sie immer schon war: eine wunderschöne Seele.

Draußen heult der Sturm weiter, schwillt an zum Orkan. Überall ist Sand, allgegenwärtig und so dicht, dass kein menschliches Auge mehr etwas zu sehen imstande ist.

Eine geöffnete Tür, eine rufende Seele; niemand  könnte und würde sie mehr sehen, mehr hören.

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Dieses Mal bin ich anlässlich eines Erkundungsstreifzugs durch die Welt der Indie-Pop- und Rockmusik bei einer Gruppe aus Belgien „hängengeblieben“. Unter dem Namen „Hydrogen Sea“ spielt sie feinen, vor allem sehr melodischen Elektropop. Die Stimme der Sängerin ist in ihrer Klarheit und Sanftheit besonders schön, wie ich finde. Das nachfolgende Lied ist eins zum Zuhören, Zurücklehnen – Melodie und Text lassen mich auf Gedankenreisen gehen …

Hydrogen Sea – „Cold Water“

Sammelsurium -117- (Ein Schnipsel)

Schnipsel (15)

Es gab sie immer wieder, diese Stunden, diese Tage, diese Wege, die er allein ging, allein gehen musste. Er wusste, das darin an sich nichts Besonderes lag. Menschen konnten nicht immer beieinander, nicht ständig zusammen sein. Und danach strebte er auch gar nicht. Schon gar nicht nach den großen oder lauten Gesellschaften, die es ihm immer schwer machten.

Aber die Stunden, Tage und Wege, jene, die er allein beschritt, waren immer länger geworden mit den Jahren und einsamer.

Manchmal sah er Menschen, von denen ihm schien, dass sie auch sehr einsam waren, oft auch mitten unter anderen Menschen. Und er hätte alles darum gegeben, diesen Einsamen etwas schenken zu können, was sie spüren konnten, was sie lächeln ließ, was ihnen Gewissheit gab, nicht allein, nicht einsam zu sein. –

Aber er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. Ein besonderer Blick konnte leicht missverstanden werden, für ein Ansprechen fehlten ihm Mut und Worte. Ein Lächeln war vielleicht gut und möglich, nur war es zu flüchtig und konnte bestenfalls den Augenblick verschönern. Gering zu schätzen war das nicht, das wusste er, aber die Einsamkeit konnte es letztlich kaum lindern.

Während er so sann und dachte, überkam ihn die Erkenntnis, dass sich die Einsamen immer nur streifen, höchstens im Sinne einer Ahnung berühren konnten, weil vermutlich jeden und jede der Betreffenden genau jene Gedanken leiten würden, die ihm soeben durch den Kopf gegangen waren.

Er seufzte verzweifelt. Und als er bemerkte, dass ihn just in diesem Augenblick ein Lächeln traf, gleich noch einmal.

Nur noch viel tiefer …

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Lysah – „Sail“

Sammelsurium -116- (Fünf Sprüchlein, ein Schnipsel und ein Lied)

Nichts ist ewig. Das ist ebenso oft tröstlich wie es traurig ist.

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Es gibt so viele Eigenschaften, die nur der Mensch zu entwickeln und auszuleben vermag, die also menschliche Eigenschaften sind. Zugleich aber sind sie gerade DAS nicht! Man denke an Intriganz, Geiz, Herrschsucht, Hass …

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Keine der wirklich zarten Pflanzen in der Natur hat Stacheln. Für die wirklich zarten Seelen gilt das auch.

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So viele Leben enden vor dem Tod.

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Ob ein Weg bereits ausgetreten ist oder nicht, macht für den, der ihn erstmalig geht, viel weniger Unterschied als landläufig angenommen und behauptet wird. Er muss doch jede Erfahrung selbst machen.

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Schnipsel (14)

Er wusste nicht mehr, wie lange er auf das Meer geschaut hatte. Vielleicht waren es nur ein paar Minuten gewesen. Aber es war eine weite Reise, die er unternommen hatte, die weiteste, zu der er je aufgebrochen war.

Er war bei dem Mädchen, dass er niemals lieben durfte. Er hatte viele Orte besucht, die er nie hatte erreichen können. Er hatte all die schönen Dinge getan, für die nie Zeit gewesen war, weil er sie für das, was notwendig genannt worden war, verwenden musste.

All seine unerfüllt gebliebenen Wünsche und Träume hatte er in den Himmel geschickt und gebeten, dass, wenn es doch einen Gott gab, er sie als Realität auf Menschen mit einem guten Herzen herniederregnen ließe.

Dann hatte er die Augen geschlossen, sich ein paar Mal um sich selbst gedreht und war, die Augen geschlossen haltend, seine Schritte langsam in den Sand des Strandes setzend, losgegangen.

Würde er dem Saum des Ufers folgen? Würde er befestigtes Land erreichen? Oder würde ihn sein Weg ins Meer führen?

Keine dieser Fragen war mehr von Belang.

Denn es begann zu regnen …

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Antilopen Gang – „Wünsch Dir nix“