Tagebuchseite -978-

Meine zwei Existenzen (Ein aktuelles Bekenntnis)

Die Überschrift mag vermuten lassen, dass hier nun ein Text über mein inneres und mein äußeres Ich folgt, mein Gewissen und mein Tun und Handeln, ihren Widerstreit, das kritische Hinterfragen des einen und das mitunter suchende und verzweifelnde Antworten des anderen. Allerdings ist eine solche Mutmaßung hier irrig. Es geht um etwas anderes. Etwas, das sich mir immer klarer offenbart, das bis vor wenigen Monaten, vielleicht Jahren nicht so gewesen ist, zumindest nicht so ausgeprägt.

Es geht um mein Ich während ich beruflich tätig bin und um mein Ich während ich Freizeit habe bzw. das, was die Tage und Wochen davon übrig lassen.

Ich habe gefunden, dass ich mehr und mehr zwei Existenzen führe. Bewusst schreibe ich Existenzen und nicht Leben, denn Leben sind darin nur Episoden. So nehme ich es jedenfalls wahr, so empfinde ich es.

Während ich arbeite, fühle ich keine Schmerzen. Ich konzentriere mich auf meine Verantwortung, konzentriere mich darauf zu motivieren, zu erklären ohne zu belehren.

Ich bin auf Zuhören fokussiert und darauf zwischen den Zeilen, die mir gesagt werden, zu hören, zu lesen, zu verstehen. Ich möchte, dass die Menschen, die mit mir zu tun haben, denen ich anvertraut bin, neugierig bleiben, sich interessieren, Lebensfreude erschließen lernen, Lebensfreude erleben. Ich möchte, dass sie es schätzen lernen, einander rücksichtsvoll zu begegnen, nicht in Schubladen zu denken und darauf bedacht sind, nie auch nur einen einzigen Menschen in eine solche zu stecken. Ich mag sie fröhlich sehen und getröstet, wenn ihnen etwas schwer wird.

Es sind Kinder, die mir anvertraut sind, überwiegend solche zwischen 11 und 12 Jahren.

Ich bemühe mich, was ich habe, was ich kann, zu geben, damit sie in dieser so kompliziert, so gefährlich, so unberechenbar gewordenen Welt bestehen können, in Würde, mit Liebe, mit einer Zukunft.

Es ist schön, das jeden Tag zu versuchen.

Es verlangt, dass ich „funktioniere“, dass ich manchen Ärger aushalte, manche Überlastung, Anstrengung, auch wenn sie andauernd ist. Es verlangt, dass ich an Grenzen gehe, an meine Grenzen. Und es kostet Kraft, immer ausreichend vorbereitet zu sein, auf der Höhe der Ereignisse und Erfordernisse, wach, optimistisch und vertrauensvoll zu sein und die gebotene Klaviatur der verschiedenen Empathien zu beherrschen und zu leben, auch vorzuleben. Und ja, sich nicht, sich niemals zu vergessen, gehen zu lassen, sehr genau abzuwägen und zu beherrschen, eigene Befindlichkeit in gebotener Weise zu relativieren, wenn es sein muss, auch zu verbergen.

Episoden von Leben in dieser Existenz sind vor allem manche Kinderlächeln, das Spüren der Freude der kleinen Persönlichkeiten über etwas Gelungenes und die Dankbarkeit der jungen Seelen für Verständnis, für Trost, für Zeit auch und gerade dann, wenn es um Persönliches geht. Episoden von Leben geriert auch das Empfinden, etwas Sinnhaftes zu tun, bei aller Un- und Überparteilichkeit ein bisschen eigenes Werteverständnis, vor allem aber Liebe, vermitteln zu können.

So wie sie ist, diese Existenz, ist sie widerstreitende Einheit von Symbiose und Parasitismus, sie ist Leben und Hamsterrad zugleich, sie schenkt Freude und geht doch so sehr an die Substanz.

Ich spüre das mehr als früher, weil ich das Älterwerden mehr spüre, viel mehr spüre …

Die Existenz in meiner Freizeit ist eine Existenz, die Erschöpfung und Unruhe ist und also Schmerz (auch und nicht selten körperlicher) und ineffiziente Rastlosigkeit. Sie ist traurig sein und Einsamkeit, eine Existenz der Gedankenreisen und der Suche nach etwas, dass immer offenkundiger nicht (mehr) zu finden ist. Sie ist Angst und manches Mal auch Verzweiflung. Wenn sie Hoffnung ist, wird sie meist zu Tränen.

Sie ist die Existenz der gewesenen und so häufig verpassten, nicht erkannten oder der gefürchteten Gelegenheiten und der unerfüllten Sehnsüchte und Träume, weil sie, wie meine Existenz überhaupt, schon immer vor allem eines war: Angst.

Sie ist die Existenz des Aufbegehrens gegen die Überforderungen, gegen das, was ich nicht (mehr) zu verstehen und zu akzeptieren in der Lage bin und gegen die Erschöpfung und die Schmerzen, die seelischen wie die körperlichen. Oft ist sie Depression, die in die Tiefe geht.

 Sie ist Flucht in jene Natur, die ich mir allein noch zu erschließen vermag, in die Weiten der Musik, die mich immer wieder so klein und staunend und fasziniert sein lässt, in die Geschichten der Bücher, die ich lese, von denen ich vorher nie weiß, wie sie letztlich auf mich wirken. Die Bedrückendsten befeuern meine Ängste, gleichzeitig sind es oft die, die ich als die ehrlichsten empfinde. Die, die Gefühle und Empfindungen beschreiben, gehen mir am nächsten. Romane und Gedichte sind die besten Filme über das, was Leben alles ausmachen kann, die wahrsten.

Episoden des Lebens in dieser Existenz sind neben den mich immer so überwältigenden Empfindungen, soweit es schöne sind und sie am Ende nicht noch größeres traurig sein gebären, manches der nicht so häufigen Telefonate, die mich eine besondere Stimme einer Freundin hören lässt, ihre Gedanken, ihren Zuspruch, ihr Verstehen. Sie sind so schön und so besonders, weil sie Augenblicke von Gemeinsam- und Beisammensein sind und weil alles andere sonst vor allem nur noch ein nebeneinander her ist.

Episoden des Lebens sind der von meinem neuen und so freundlichen Lieblingsitaliener spendierte und einzigartig gute Espresso, das Schmecken von Honig auf frischem Brot, das mich täglich auf ganz eigene und intime Weise mit meinem Vater verbunden sein lässt, die Geborgenheit der letzten Minute des Wachseins an einem jedem Abend.

Auch der Versuch, mir selbst Freund zu sein, mich nicht eines Tages abzulehnen, weil so vieles sonst so schwer ist, mich eingeschlossen, ist Leben. Der Versuch, mir Freund zu sein, weil ich mich, als Einzigen und Einziges immer habe.

So sind sie, meine beiden Existenzen. In beiden bin ich Ich, und doch in einer jeden ein anderer. Mein inneres Ich spricht ausschließlich in der „Freizeitexistenz“ mit mir, fragt mich, kritisiert mich, fordert mich heraus. In der anderen ist weder Zeit noch Raum für unsere Gespräche.

Zwei Existenzen durch eine Person. Nach außen scheint es so, als wenn die eine von der anderen nichts weiß. Und ich pflege diesen Eindruck – Schizophrenie meines eigenen begonnenen Sonnenuntergangs.

Es ist schwer zu begreifen, dass und wie ich dahin geraten bin. Und ebenso wenig, dass es nun so ist.

***

Das Lied, das ich heute habe, kommt mal wieder aus Frankreich. Kid Francescoli, wohl seit dem Jahr 2000 bestehend, ist ein Indie-Pop-Duo, das sich dem Elektropop verschrieben hat. „Les Vitrines“, 2017 veröffentlicht, kommt scheinbar leicht daher und hat nur einen recht kurzen Text, der mich jedoch irgendwie anspricht und in dem ich mich auch auf spezielle Weise ein bisschen wiederfinde. Ich stelle mal eine (allerdings nicht professionelle) Übersetzung mit auf diese Tagebuchseite:

Was gibt es Beunruhigenderes als die Luft der Städte?

Was ist zerbrechlicher als dieses Gefühl, wenn alles an dir vorbeizieht?

Du nicht sehr subtil, du guckst die Mädchen an.

Sie scheinen dem Ozean oder einem Roman zu entspringen.

Und du guckst dir die Schaufenster an.

Und ein Film entsteht in dir.

Was ist beunruhigender als die Luft in den Städten.

Die Neonröhren leuchten im Nu auf, die Nacht sinkt herab.

Du nicht sehr subtil, du guckst die Mädchen an.

Ihre Schatten gleiten zwischen den Passanten hindurch und die Nacht dehnt sich aus.

Und du guckst dir die Schaufenster an.

Und ein Film entsteht in dir.

Kid Francescoli – „Les Vitrines“:

6 Gedanken zu “Tagebuchseite -978-

  1. Lieber Sternflüsterer,
    ich finde die Arbeit, die du in deinem Alltag verrichtest, unglaublich bewundernswert. Ich kann mir vorstellen, wie viel sie dir abverlangt und wie kräftezehrend sie sein kann. Ich liebe Deine Beschreibung vom Leben, von den kleinen Dingen, die Dir eine Freude bereiten, und was Dich bedrückt, Dir Schmerzen bereitet. Es ist sehr nahbar und menschlich geschrieben und erinnert mich daran, das all das, das Gute und das Schlechte, nun mal zu uns, zu unserer Existenz, gehört. Danke für Deinen Text! Ganz liebe Grüße!

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    • Liebe Doktor Reed,

      immer, wenn ich durch dieses Fenster komme und Worte von Dir finde, ist das ein Gefühl wie wahrhaft nach Hause kommen. Ich spüre dann so ein verstanden werden und angenommen sein, obendrein immer wieder so viel Wertschätzung, Zuspruch und außerdem eine unglaublich besondere Dankbarkeit, dass ich jedes Mal zutiefst berührt bin. Und das alles, obwohl durch so viele meiner Zeilen Melancholie und auch Schwermut, durchscheint, die auf (m)ein Wesen hinweist, das es anderen Menschen sicher oft nicht leicht macht.

      Es mag pathetisch klingen, aber es ist ganz aufrichtig und aus dem Herzen so gemeint: Du verkörperst für mich ganz, ganz viel von dem, was ich mit Heimat beschreibe und verbinde.
      Und Heimat empfinden zu dürfen, das ist für mich das größte Geschenk.

      Dir auch ganz liebe Grüße! 🕊💚

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      • Lieber Sternflüsterer, deine Worte ehren mich sehr. Jemandem das Gefühl von Heimat vermitteln zu können, macht mich sehr dankbar. Deine Art, Dich so wertschätzend, feinfühlig und aufmerksam auszudrücken, finde ich in meinem Alltag sehr selten, was sicherlich auch beruflich bedingt ist. Umso mehr weiß ich sie zu schätzen, wenn ich ihr hier begegne. Ich grüße Dich, wenn auch verspätet, sehr herzlich zurück!

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  2. Lieber Sternflüsterer,

    ob Rolle, Leben oder Existenzen genannt – in der beruflichen scheint mir „funktionieren“ eher ein Understatement zu sein. Ich bin mir sicher, Du gibst den Kindern so viel mehr als Du es selbst vermutest. Sie werden davon zehren, wenn sie Dir schon längst nicht mehr anvertraut sein werden, weil erwachsen.
    Vielleicht ist es ein Gedanke, der beim Espresso sacken gelassen, Dir einen kleinen Lichtstrahl in Deine zweite Existenz bringt? Ich wünsche es Dir!
    Herzliche Grüße!

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