Tagebuchseite -1004-

Vor einer kleinen Reise

Da sind ein paar freie Tage und ich kann sie weder realisieren noch gelingt es mir, sie so zu nutzen, wie ich es mir in langen Wochen der Anforderungen, der Zwänge, des „Funktionierens“, der Erschöpfung, erträume. Vermutlich hängt das eine mit dem anderen zusammen. Ich vermag ja auch nicht zu schreiben, wenn ich innerlich nicht wenigstens ein bisschen frei bin.

Es ist beinah schon surreal, wie manifest in meinem Inneren eine Angst Bestand hat, zu verschlafen, etwas nicht getan zu haben, was unbedingt getan werden musste, davor, dass ich verpassen könnte, mich rechtzeitig wieder so zu präparieren, dass das „Funktionieren“ wieder und weiter funktioniert. Und es ist wie im vorigen Herbst, als ich immer mehr Panik vor einer eigentlich geplanten kleinen, mit einem Ortswechsel verbundenen, Auszeit entwickelte, so sehr, dass ich am Ende dann doch nicht gefahren bin.

Ebenso ist es jetzt wieder. Morgen soll der kleine Tapetenwechsel, der erste überhaupt seit mehr als eineinhalb Jahren, eingeleitet werden und die Stimme ist wieder da, die mir flüstert, doch lieber wieder einen Rückzieher zu machen. Je näher die morgige Abfahrt rückt, desto intensiver wird jenes innere Beben, das ich so verabscheue, das sich wie eine ins unermesslich ansteigende Prüfungsangst anfühlt.

Wie kann das sein, bei einer Reise von wenigen Stunden, an deren Ziel mich Freunde erwarten? Wie kann es sein, dass ich einfach nicht abzuschalten vermag? Wie ist es möglich, dass ich so seltene Freizeit mit ganztägiger, gänzlich uninspirierter Prokrastination fülle, es nicht einmal zuwege bringe, in dem schönen Roman, jenes Autors zu lesen, den ich doch so schätze?

Ich glaube die Antwort zu kennen, aber ich mag sie nicht sagen, nicht aufschreiben, nicht hören. Weil sie ein Urteil ist, eins, gegen das es kein „Rechtsmittel“ mehr gibt, eins, das unanfechtbar ist.

Vor Tagen habe ich in dem vollgestopften Zimmer, in dem ich arbeite und schlafe, in einem der vielen Kartons mit jenem Teil des Nachlasses meines Vaters, für den es in dieser Wohnung keinen Platz gibt und den sonst niemand wollte, der mir hingegen mit das Wertvollste bedeutet, eine Fotografie von ihm gefunden. Sie ist in einem Atelier entstanden, nicht groß, aber wunderschön. Sie zeigt das Gesicht meines Vaters. Sie zeigt ihn so, wie er war, wie er für mich ist und bleiben wird.

Wenn ich es ansehe, strömt eine nicht zu beschreibende Wärme in mein und durch mein Herz. Es ist seine Wärme. Immer noch bahnt sich diese Erfahrung manches Mal in Tränen einen Weg in die Welt, in den wärmsten, die ich je weinte. Ich weiß, dass das nie aufhören kann, nie aufhören wird.

Das unanfechtbare Urteil, die Bomben und Beben, die den Planeten gerade jetzt wieder so sehr erschüttern, mein Dasein, das sich nurmehr grundsätzlich in Selbstgesprächen reflektiert, mit meinem Vater teile ich nach wie vor alles. Er versteht mich zutiefst, er hat mich immer verstanden.

Meine letzte unerfüllbare Sehnsucht ist die, nach manchem ausgedehnten Spaziergang an seiner Seite, so wie wir immer wieder einmal einen unternommen haben, mit nachfolgender Einkehr vor seinem Bücherschrank, einem Reich schönster Unerschöpflichkeit an Geist und Sprache, das uns beide stets auf geheimnisvolle Weise inspiriert hat.

Ich vermisse das so sehr, die Gespräche, die wir dabei führen konnten, seine Nähe.

Weil das so ist, hat das Charisma, das jene erwähnte Fotografie ausstrahlt, eine traurig schöne Wirkung auf mich. Und es rührt mich so sehr an, dass mein Vater von seinem Foto aus, so freundlich, so herzlich, mir zugewandt gegen den traurigen Teil anlächelt.

So gehe ich also wohl morgen für eine Woche auf die kleine Reise, das Urteil kennend, die Angst im Herzen, den Roman dabei und das Lächeln meines Vaters.

***

Von Femi Luna aus der Schweiz habe ich vor knapp einem Jahr erstmals ein Lied hier geteilt. Es war eine Aufnahme ihres Debütalbums, die sehr schön anzuhören war. Das gilt auch für die erste Singleauskopplung dieses Albums, die ich heute hier vorstellen möchte. Der ganz eigene, melancholische Sound und die besondere und einprägsame Stimme der Interpretin, lassen eine unverwechselbare Atmosphäre entstehen. Ich wünsche Femi Luna, dass sie bald eine größere Hörergemeinde erreichen kann. Ihre Musik hat es verdient …

Femi Luna – „Bad Brain Party“

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