Tagebucheintrag meiner Seele
Dies ist mein erster Eintrag in dein Tagebuch:
Du schlägst die Augen auf. Es ist nicht ganz so dunkel wie an jenen Morgen der Arbeitstage, an denen deine Nacht um fünf Uhr endet und wir beide es kaum schaffen, uns zu erheben und in den Tag zu gehen.
Nach den üblichen Verrichtungen im Bad bereitest du das Frühstück. Das machst du immer. Heute tust du es ein bisschen mehr für mich als sonst. Du weißt, dass das frische Ei an Sonntagen eine besondere Freude für mich ist. Aber unsere Frühstückszeit ist auch heute, am Sonntag, endlich.
Du nimmst mich schon bald wieder mit an deinen Schreibtisch. Wochenendtage sind keine freien Tage für uns, seit du an der Schule arbeitest.
Ich merke, wie schwer du dich tust. Du bist nicht motiviert und für vieles brauchst du weit mehr Zeit, als du es dir vorgestellt hast. Das schwächt die Motivation weiter. Du beginnst, dich über dich zu ärgern, weil es schon wieder viel schleppender vorangeht, du spürst, dass du nicht effektiv arbeitest und wieder einmal nicht anders kannst, als jeden kleinen Arbeitsschritt und sein Ergebnis hundertmal zu hinterfragen und weil du auch immer mal wieder abschweifst. Ich ärgere mich auch über dich. Weil du mir damit Druck machst, von dem ich schon genug habe.
Die kleine Espressopause, die ein zweiter kleiner Freudenhauch werden könnte, wird es nicht, weil von mir schon wieder dieses irrationale, aber sehr starke Gefühl unbestimmter Angst, ja Panik, Besitz ergriffen hat. Ich frage dich, woher das kommt und warum es sich ausgerechnet jetzt steigert, wo wir doch daheim sind und, bis auf den Lärm aus der Wohnung über uns, nichts fürchten müssen.
Du weißt keine Antwort, bist resigniert. Du hast noch nie eine Antwort auf diese Frage gehabt.
Irgendwie machen wir weiter, du und ich. Das Unruhegefühl bleibt unser Begleiter.
Während der nächsten kleinen Pause sehen wir ein bisschen vom Leben der anderen. Von ein paar Menschen auch, die wir mögen. Die Ton- und Bilderfetzen schenken uns Freude, weil sie zeigen, dass diese Leben zumindest ein paar ganz andere Nuancen oder Phasen haben als das unsere, und wir es diesen Menschen gönnen, von Herzen. Zum Beispiel zu tanzen durch Monsunregen mitten in Singapur.
Du unterbrichst die Episode, es ist immer noch genug zu tun. – Eine Mail ploppt auf, es fallen wieder mehr Kolleginnen und Kollegen aus nächste Woche. Du liest nicht weiter, aber es hat schon genügt: Mir geht für einen kleinen Moment die Kontrolle über das Angstgefühl verloren.
Nach dem Mittagessen, die nächste Schicht. Die letzte. Dir fällt noch so viel ein, was neben dem eigentlich „Routinierten“ noch vorzubereiten, zu recherchieren, zu erstellen ist. Und du gehst es an. Die Zeit, die wir nicht haben, fliegt dahin. Paradox, wie etwas, was so zäh ist, letztlich dahingeflogen sein kann.
Wochenendzeit, die keine ist, im Rückspiegel.
Es reicht noch für einen Lieblingstee und ein kleines Stück Stollen. Als du davon isst, werde ich noch schwermütiger als ich es in diesen Wochen ohnehin schon bin. Der Geschmack ist Advent, ist Weihnachten – so wie sie früher einmal waren.
Die Wochenendzeitung liegt ungelesen, der begonnene Roman jenes Schriftstellers, den du so magst, ist wieder unberührt geblieben, die Luft draußen haben andere Menschen eingeatmet. Du hast immerhin ein wenig mehr gesprochen als an jenen Wochenenden, an denen du tatsächlich nur meine Gesellschaft hast. Aber du durftest und solltest nicht alles sagen.
Ich bin dafür da, alles zu hören, alles zu verarbeiten. Mit dir bestenfalls. Begreif‘ das doch endlich!
Es ist Abend geworden. Die Tasche ist gepackt. Sie ist sehr schwer. Die morgen beginnende Woche steckt voller Eventualitäten. Ich spüre deine Ungewissheit, sie macht sich bereit, für die Nacht zu bleiben. Party ist angesagt, mit dem Angstempfinden. Und wie ich sie kenne, feiern sie morgen früh einfach weiter. Ich muss es aushalten, wie immer.
Du hast bemerkt, dass ich gerade besonders intensiv mit mir selbst beschäftigt bin. Aber du vermagst nicht, mich zu beruhigen, denn eben ist dir eingefallen, dass am Donnerstag noch ein „besonderes Event“ ansteht, vor dem wir beide uns am liebsten drücken und verkriechen möchten, aber nicht können.
Wir leben nicht unser eigenes Leben, wir leben auch nicht ein Leben, wie es andere Menschen leben.
Leben heißt agieren.
Wir reagieren nur noch und haben vollauf damit zu tun, und damit, dabei zu versuchen, uns zu erhalten, nicht verloren zu gehen, uns nicht zu verlieren. An Wochenenden wie im Alltag.
Das ist zu unserer Lebensleistung geworden. An jedem Tag. Schwer erkämpft.
Nachrichten dringen an unsere Ohren. Jetzt, wie an jedem Tag. Nachrichten, die nichts besser machen. Jetzt nicht und an keinem Tag. Wir müssen sie hören, müssen sie lesen, weil sie allgegenwärtig sind und weil sie die Welt beschreiben. Und weil unsere Empfindsamkeit keine Barrieren kennt.
Ich wünsche dir eine gute Nacht und verspreche dir, morgen früh, wenn es um fünf sein wird, wieder alles zu geben, damit wir es schaffen … erst einmal wieder aufzustehen, den Bus zu erreichen und weiter zu funktionieren, irgendwie …
***
Das niederländische Paar Danique van Kesteren und Bart van Dalen, welches sich hinter „Donna Blue“ verbirgt, spielt Indie-Pop der besonderen Art. Seine Musik erinnert an Nancy & Lee, Serge Gainsbourg und Julee Cruise – lässt sich aber auch von Filmkomponisten wie Ennio Morricone, Piero Piccioni und John Barry inspirieren. Es bietet ein bisschen Flucht aus dem Alltäglichen …
Donna Blue – „Inbetween“
Pa0t gut auf Euch auf und bleibt einander erhalten!
Herzliche Grüße!
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„Leben heißt agieren“, nicht immer. Auch sich treiben lassen, ist leben. Atmen ist leben und das hast du, das habt ihr beide ganz sicher nicht eingestellt. ❤
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