Tagebuchseite -670-

Würde ich eine Geschichte über diese Woche schreiben, so wie sie wirklich war, würde es eine lange Geschichte werden, eine, die viel über Mühen, Ängste, Erschöpfung und Albträume, die leider zu mir zurückkommen, erzählen würde. Aber ich mag diese Geschichte nicht aufschreiben, weil ich mir nicht sicher bin, ob die Erinnerung an all diese Dinge am Ende nicht schwerer wiegen würde als das Schreiben mir Erleichterung zu schaffen vermöchte. So lasse ich hier und jetzt all diese Dinge ungesagt.

Die Geschichte, die ich schreiben werde, wird eine andere sein. Eine, die sich so nicht abgespielt hat, die dennoch wahr ist. Alle Episoden darin, sind tatsächlich passiert. Nicht in der Abfolge, wie sie dort erscheinen und viele für sich nicht länger als ein Augenblick. Die Geschichte ist um vieles kürzer als jene über die Schwere, die nun nur in mir geschrieben stehen bleibt. Es ist:

Die Geschichte über die schönen Momente meiner soeben gelebten Woche

Was für ein roter Morgen! So einen Sonnenaufgang gibt es hier selten am Firmament über den Plattenbauten. Wolken, die vor Tagen noch als schmutziggraue, dicke Staubflusen dahin jagten, stehen nun als bordeaux-violette Flauschgebilde still am Himmel. Geteilt von einem Regenbogen, der vor mir Anlauf nimmt, mein Haupt zu überkreisen und am Horizont hinter mir seinen Radius zu vollenden.

Die Luft schmeckt irgendwie nach Haarspray. In ihr schwingt Musik eines gleichnamigen Musicals, die immer wieder von jubelnden Beifallsklängen unterbrochen wird. Ich sehe mich selbst eifrig die Hände zum Beifall rühren. Bewegung gewordene Rührung, die mir in den Augen geschrieben steht. Augen, die junge Menschen sehen, auf einer Bühne, singend und tanzend. Mitten unter ihnen der Produzent, der fast drei Stunden währenden Aufführung. Ganze 15 Jahre jung ist er. Die mit und um ihn herum singen und tanzen, sind so alt wie er oder nur wenig älter. Ebenso diejenigen, die die Bühne immer wieder umbauen und die, der der Chor sind. Und die, die als das kleine Orchester spielen. So ein Musical hat diese nicht eben bedeutende Stadt noch nicht gesehen.

Ein Mädchen mit blonden Haaren und einer sehr schicken Brille tritt hervor. In ihren Händen trägt es bunte Glückskekse. Sie hat sie selbst genäht. Sie sind in ihrer Form nicht von jenen zu unterscheiden, die man manchmal im Supermarktregal findet und kaufen kann. Die Stoffglückskekse des Mädchens sind nicht käuflich. Sie sind ein Geschenk. In jeden hat sie zwei Sprüchlein hinein getan. Ich wähle einen grünbunten Glückskeks. Und bin gerührt. Das Mädchen bedankt sich. Die Woche bei uns habe ihm so gefallen. Und wir hätten es toll gemacht, es habe über sich gelernt und es habe ihm Spaß gemacht bei uns zu sein. So viel Positives über sich, sei ihm kaum einmal gesagt worden. Es lässt zu, dass wir uns unsererseits mit einer Umarmung bedanken dürfen. Ich drücke das Mädchen fest. Und weiß, dass ich es nie vergessen werde.

Aus zwei hellbraunen Augen strahlt mich immer wieder ein Lächeln an. An einem Ort, wo es an sich schwer für mich ist. Ich überlege, was ich dafür zurückgeben kann, und habe eine Idee. Denn ich denke, dass ich vielleicht helfen kann. Ich sage an was ich denke und bekomme dafür das schönste Lächeln der Woche.

Wieder höre ich Klänge. Musik, die mich erdet. Ich verliebe mich augenblicklich. In die Musik und in die Frau, die dazu singt. Ich entdecke mehr und mehr von beiden, die mir bis dato gänzlich unbekannt gewesen sind. Seltsam, wie wir so lange aneinander vorbei leben konnten …

Ich gehe durch die Innenstadt mit einem Plan im Kopf. Da ist die Freundin, die mir immer wieder eine kleine Nachricht schickt, mir versichert, „da“ zu sein. Sie hat eine Intuition, das sehr oft genau in jenen besonderen Augenblicken von denen sie wohl spürt, dass sie nicht zu meinen leichten gehören, zu tun. Ich genieße das, denn mich durchströmt jedes Mal Wärme, wenn so eine Nachricht eintrifft.
Der Versicherung wegen bräuchte es diese kleinen „Lebenszeichen“ gar nicht, weil ich längst weiß, dass das, was da jeweils geschrieben steht, aus einem Herzen kommt, dass sehr treu für mich schlägt und nicht einfach so verschwinden wird. Ich bin froh, dass da jemand ist, mir zu helfen, meinen Plan umzusetzen. Denn für den eigentlich praktischen Teil davon mangelt es mir an Fingerfertigkeit. Gestern ist der real gewordene Plan auf die Reise gegangen …

Ich wünsche mir, dass er unversehrt ankommt, so wie die drei Rosen, die ich meinem Sohn geschenkt habe. Ich wollte unbedingt, dass er sie bekommt. Und ein Licht. Wenigstens das. Ich bin so, ich kann nicht anders.

Ebenso kann ich nicht anders als zwischen Seiten und Zeilen zu spazieren, mich darinnen und dazwischen umzusehen. Wenn ich nur immer ein wenig Zeit dafür habe. Es sind meine größten und schönsten Entdeckungsreisen. Und, sie unterbrechen den Alltag, den mich eine Stimme und eine Nähe etwas leichter leben lassen. Diese Stimme und diese Nähe gehören einer Frau, die meinen Sohn kennenlernte als er etwa drei Jahre jung war. Heute ist sie mir die liebste Kollegin. Ich mag sie und ich vertraue ihr. Schön, dass sie wieder da ist.

Und schön, dass die da waren, da sind, die mir schreiben.

Jemand war darunter, dessen Schreiben mich sehr überrascht hat. Ganz positiv, was sich dieser „Jemand“ allerdings wohl so gar nicht vorzustellen vermag. Mein Lesen des Briefs war Verzeihen (obwohl ich längst verziehen habe) und Wünschen. Sehr auch der Wunsch wieder zu schreiben, zu antworten, denn da war vor allem ein Satz, der mir Sorge ins Herz rief. Wenn die Antwort nur nicht auf irgendeine Weise weh tut …

*

Hier endet nun meine Geschichte, denn in die angedeutete Sorge mischt sich Sehnsucht, Sehnsucht nach Menschen, Menschen, die ich alle kenne und für die ich wünsche. Und Sehnsucht nach dem, was fehlt, mir fehlt. Immer wieder.

Und so schön manche Sehnsucht sein kann, so ist sie auch immer wenigstens ein bisschen Schmerz.

Meine Geschichte heute aber, sollte ja eine nur über schöne Momente sein. Und bleiben.

***

Max Prosa – „Glücklich mit nichts“

2 Gedanken zu “Tagebuchseite -670-

  1. Na, da war doch manch Schönes dabei.

    Für einen Melancholiker wird natürlich auch das Schöne immer wieder mit süßem Schmerz verbunden sein (da erzähle ich dir eh nix Neues), das ist die persönliche Art des Empfindens, wie sie jedem individuell zusteht, ohne dass andere darüber urteilen müssen. Bloß, dass ich mir für dich ab und zu wünschen würde, Negatives nicht auch noch zu suchen, wie etwa in gewissen Büchern, die dir als Viel- und Gernleser aus vielerlei Gründen ans Herz gehen – hier beziehe ich mich auf vorangegangene Blogeinträge. Wenn es einem eh schon schlecht geht, kann, darf, soll man nach Aufbauendem greifen, in Buchform gibt es da eine große Auswahl. Nein, keine Ratgeber oder weisen Sprüche, sondern heitere Romane, Erzählungen, Verse und und und. Das Beschwerliche nicht noch vertiefen, bis man selber in der Tiefe verhängnisvoll gefangen bleibt.
    Bitte – ja?

    Darf ich dich um noch etwas bitten? Achte darauf, wie weit du dich in etwas reintreiben lässt, durch deine Gutmütigkeit, deine Großzügigkeit beim Verzeihen, deine wahrhaft schöne, aber für dich gefährliche Neigung, allen Gutes tun und gut genug sein zu wollen. Du kannst nicht alle mitschleppen, die Hilfe, Zuspruch oder auch nur ein weiteres Opfer suchen, ohne deine Kräfte zu überfordern. Sortiere auch mal gründlich, denn Menschen haben nicht nur das Recht auf Respekt, sondern auch die Pflicht, selber Respekt zu erweisen, und wer dich immer wieder ausnutzt, neigt zur Vernachlässigung dieser, im Umgang mit Anderen so immens wichtigen Pflicht. Lass nicht zu, dass du dies noch förderst. Hilf gerne mit, Menschen zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, aber zeige unmissverständlich deine eigenen Grenzen auf – so, dass man sie dir auch glaubt, zugesteht und nicht mit gezielt rührseligen Worten sukzessive lockert.

    Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob das richtig rübergekommen ist, aber ich hoffe, du ahnst, wie ich es meinen könnte. 😉

    (Bin halt noch immer ein wenig traumatisiert von den Ereignissen rund um L. …)

    Angenehmes Wochenende und liebe Grüße!

    Gefällt 1 Person

    • Mit allem was Du mir hier schreibst, liebe Jessie, hast Du Recht. Das nicht so sehen und es nicht als aufrichtig und freundschaftlich gemeinte Hinweise und Gedanken verstehen zu können, ist nicht mein Problem.

      Ich nehme mal das Beispiel mit den Büchern.

      Derzeit lese ich gerade „Das Spiel des Engels“ von Carlos Ruiz Zafon. Ich weiß nicht, ob das allgemein als ein Roman gesehen und verstanden wird, der Traurigkeit auslösen, befördern oder verstärken kann. Wenn ja, dann habe ich davon nichts gewusst – meine Beweggründe diesen Roman zu lesen, sind durch andere Motive geprägt zu werden als über sein Lesen in Melancholie und Traurigkeit zu verfallen. –

      Ich mag das Buch auch vor allem wegen seiner Sprache, seiner Spannungsbögen, seiner bildhaften Beschreibungen und deshalb, weil es darin sehr viel um Bücher und ums Schreiben geht. Es stecken sehr viele sehr interessante Gedanken darin. Und doch macht mich dieses Buch immer wieder sehr traurig, vor allem, weil ich (zu) sehr mit manchen der handelnden Personen fühle. Aber auch das Erleben der Schönheit der Sprache, der Inspiration, die von einigen Gedanken für mich ausgeht, berühren mich so sehr, dass ich mich am Ende in Melancholie wiederfinde. Das Buch ist schööön ….

      Bei „Vater Goriot“ von Balzac oder „Irrungen und Wirrungen“ von Fontane, die ich kürzlich las, ist es mir nicht anders gegangen. Und ebenso bei dem allerdings kriminalistische Züge habenden Roman „Die Therapeutin“ der schwedischen Schwestern Camilla Grebe und Asa Träff, der auch zu meinen neueren Lektüren zählte.

      Von letzterem würdest Du mir sicher zuvorderst abgeraten haben. Aber auch von den anderen? – Was bliebe mir dann noch zu lesen?

      Mich meiner Gutmütigkeit, meinem Verzeihen wollen, meinem Bedürfnis Harmonie herstellen zu wollen, meinem Bestreben Rücksicht und Respekt bewusst leben zu wollen, begrenzende Konsequenz entgegen zu setzen – das ist freilich ein Stück Kampf gegen mich selbst, gegen mein ICH.

      Mein ganzes, doch schon recht lange währendes Leben bin ich dieses ICH geworden. Und zwar immer im Kampf gegen meine Naivität, der ich mir allerdings erst nach dem Systemwechsel 1989/90 überhaupt bewusst geworden bin. Ich habe wirklich sehr gegen sie angekämpft und auf manchem Felde, auf dem sie mich geprägt und begleitet hat, war ich auch erfolgreich. In Bezug auf Zwischenmenschlichkeit ist mir das womöglich, nein, sehr wahrscheinlich, nicht gelungen. Ich ahne nur, warum das so ist.Genau weiß ich es auch nach mehreren -zig Therapiestunden immer noch nicht.

      Der Kreis schließt sich: Das Ansinnen, Dein Wunsch, die Notwendigkeit, es begrenzen zu müssen, macht mich sehr, sehr traurig. So sehr, dass ich es einfach nicht vermag.

      Ich weiß nicht, ob das nachvollziehbar, oder gar verständlich ist. – Es klingt wohl ziemlich melodramatisch …

      Ich weiß, dass niemand von mir verlangt, nicht mehr gutmütig, rücksichstvoll und bereit zu vergeben zu sein. Aber schon dafür ein „Maß“ finden zu sollen, mutmaßlich besser sogar zu müssen, ist für mich nicht fassbar …

      Es ist schwer auszudrücken, was und warum mir das so sehr zu schaffen macht. Vermutlich entsteht der Eindruck, dass ich gar nichts ändern WOLLE. Und ja, das mag die halbe Wahrheit sein, denn ich habe ANGST davor, das anzugehen. Und diese Angst ist keine kleine …

      Sie ist so groß, dass ich es so empfinde als könnte ich an dem Versuch, sie zu ignorieren oder zu überwinden kaputt gehen.

      Ich kann darüber nicht weiter schreiben – es wühlt mich zu sehr auf, ist zu persönlich … – bitte, liebe Jessie, nimm mir das nicht übel … – Es geht nicht.

      Liebe Grüße.

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