Über den letzten Grund des Schreibens
Plötzlich steht alles still. Nichts ist mehr zu hören. Der Modus ist ein anderer. Sagt meine Ratio.
Ich bin irritiert, so wie jedes Mal am Ende eines Jahres. In mir drin ändert sich nichts auf Kommando. Weil das so ist, braucht es einige Tage, bis meine Seele versteht, dass sie ausruhen darf. Und noch etwas mehr Zeit benötigt sie, das dann auch wirklich zu versuchen. Wenn sie es endlich realisiert und nach mühevoller Anstrengung ein paar Wege wiedergefunden hat, die vormals erfolgversprechend gewesen sind, was das Ausruhen betrifft, wird es schon wieder laut, obwohl es draußen noch eine Weile leise bleibt
In mir drin wird es schon wieder laut. Vorauseilender Gehorsam jenes kranken Ichs, das weiß, was von ihm erwartet wird und immer wieder alles aufwendet, um dem zu entsprechen.
Früher habe ich während der Tage am Ende des Jahres manche Inspiration in mir gespürt, etwas zu schreiben und habe das dann auch getan. Inspiriert. Manch schöner kleiner Text ist dabei entstanden.
Ich sehe die Tagebuchseiten durch, die ich in diesem Jahr beschrieben habe. Ich konstatiere, dass die meisten ohne Inspiration entstanden und vollendet worden sind. Sie lesen sich nicht schön, sie erzählen wenig, beschreiben augenscheinlich immer dasselbe: einen Zustand, der jede Inspiration erstickt und tötet, bevor sie sich auch nur ein ganz klein wenig entfalten könnte.
Wie und warum habe ich dann trotzdem geschrieben? Seltener zwar als in den Jahren zuvor, aber eben doch: Geschrieben.
In dem Roman, den ich gerade lese und dessen Autor ich mittlerweile wahrlich verehre, habe ich die Antwort gefunden: Die meisten meiner Texte dieses Jahres sind aus Notwehr entstanden!
Ja, Schreiben kann Notwehr sein: gegen die Ängste, gegen die Depression, gegen die Einsamkeit, gegen den Stress, gegen die Erschöpfung, gegen die Krankheit, gegen die Art des eigenen Existierens.
Schreiben aus Notwehr geschieht, wenn nichts anderes (mehr) geht. Schreiben fühlt sich immer ein wenig wie Teilen an. In der Notwehr teile ich das, was ich schreibe, mit mir selbst. Die Einbildung, dass dadurch manches leichter wird, stirbt zuletzt. So zu schreiben geschieht nicht aus Motivation, nicht freiwillig, es geschieht aus und mit Überwindung.
Überwindung bedarf Aktivität. Und so bedeutet dieses Schreiben immerhin noch, nicht bloß und andauernd zu verharren in den Ängsten, den Depressionen, der Erschöpfung. Wer will, kann und möchte, mag darin etwas Positives sehen.
Mir fällt das schwer, weil fast das ganze übrige Leben schon nur noch Überwindung ist, Überwindung erfordert, damit ich weiter existiere.
Schreiben aus Notwehr, Schreiben gegen etwas, Schreiben aus und mit Überwindung, ist nicht das Schreiben, das ich so liebe, das ich so gern tue. Es ist kein freies Schreiben. Es sind Notizen und Briefe aus einem Gefängnis. Und so lesen sie sich auch.
Ich habe während dieses Jahres mehr als einmal darüber nachgedacht, ob ich weiter so schreiben sollte, wenn ich es ja doch eigentlich nicht möchte. Zu einem belastbaren Ergebnis haben mich diese Gedanken (bisher) nicht geführt. Eine andere, eine sehr finale Frage, steht dem im Weg: Was passiert (mit) einem Menschen, dem seine letzte Verteidigungsmöglichkeit, die der Notwehr, nicht mehr zur Verfügung steht oder genommen wird?
Ich erinnere mich, dass ich manches Mal geschrieben habe, wie wichtig und sinnvoll es sei, allem Ungemach zum Trotz, auf der Suche zu bleiben. Zu suchen ohne den Vorsatz, unbedingt finden zu wollen, zu suchen, um ein Minimum an Offenheit zu bewahren, Offenheit, um nicht zu übersehen, was immerhin ein wenig Licht und Wärme spendet.
Ein bisschen Licht und Wärme habe ich so tatsächlich wahrnehmen, spüren und mich darin ein wenig einhüllen können. Es waren, es sind Momente, die einem liebevoll gepackten Päckchen, einigen für mich geschriebenen Zeilen und in mir lebendig gebliebenen Erinnerungen ebenso innewohn(t)en wie einem Buch, ein paar Melodien und einem Hauch mich ab und an streifender realer Atmosphäre.
Ich mag nicht daran denken, was kommen wird, aber ich bin auf dem Weg, diesem Jahr „Adieu“ zu sagen, diesem Jahr der Notwehr …
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„Widowspeak“ bedeutet so viel wie „Witwensprache“. Weshalb sich die Indie-Pop-Band, seinerzeit bestehend aus Molly Hamilton, Michael Stasiak und Robert Earl Thomas, 2010 anlässlich ihrer Gründung in Brooklyn diesen Namen gegeben hat, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Aber dass die Band etwas Besonderes ist, habe ich bei Hören einiger Songs sehr schnell erfahren dürfen. Nicht etwa nur deshalb, weil Sängerin Molly in den Anfängen der Band so schüchtern war, dass sie sich nicht traute, vor ihren Mitstreitern am Mikrofon zu singen, statt dessen nur Mundbewegungen machte.
Heute bilden Molly und Robert die Kernbesetzung der Gruppe, deren Zusammensetzung ansonsten zwischendurch gewechselt hat. Insgesamt sechs Alben sind bis heute produziert worden. Die Band pflegt einen sanften, etwas nostalgisch anmutenden, von der besonderen Stimme Molly Hamiltons sehr treffend untersetzten Indie-Pop, in den wechselweise andere Genres mit einfließen.
„True Blue“ ist eine hörenswerte Auskopplung aus dem jüngsten, in diesem Jahr (2022) erschienenen Album:
Widowspeak – „True Blue“
Mein lieber sternflüsterer, Schreiben aus Notwehr… Und daraus entstehen dann oftmals diese Texte, so bildreich, so sprachschön, wie man sie selten antrifft. Und desto lieber liest.
Ganz herzliche Grüße und ein wenig Entspanntheit, bevor es wieder los geht für Dich im Alltag!
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Der Sprache gehört ein großer Teil meiner Liebe.
Lieben kann man auch in Bedrängnis, in Angst, in Traurigkeit. Manchmal wird die Liebe oder mindestens die Sehnsucht danach dann sogar besonders groß. Wenn ich dann schreibe …
Komm gut und gesund ins neue Jahr. Viele herzliche Grüße! 🥂✨
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Danke, komm Du ebenso gut ins neue Jahr. Möge es eines sein, das viel Sonne für Dich bereit hält.
Herzliche Grüße!
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