Tagebuchseite -940-

Ein Versuch zu erklären, weshalb manche Seelen nicht frei sein können

Für Menschen, deren Leben für sie zufriedenstellend verläuft, die sich grundsätzlich alle ihre Wünsche zu vollenden vermögen, in erfüllten, glücklichen Beziehungen geborgen sind, in ihrem Traumberuf Erfolge feiern können, die kaum zu befürchten haben, dass sich an ihrem komfortablen Lebensstil etwas zum Schlechteren verändert, die anerkannt werden und sind, die also viele „große Dinge“ ihr Eigen nennen können, ist es ein Leichtes, andere Menschen auf die „vielen schönen kleinen Dinge“ zu verweisen.

Es mag oft eine gute Absicht damit verbunden sein, wenn sie das tun. Manches Mal scheint es mir freilich aber auch, dass damit (wenn auch nicht ausgesprochen) ein Beschwichtigen verbunden ist, was  nach meinem Empfinden auch in dem Hinweis, doch dankbar zu sein, für die kleinen Dinge und sich doch bitte anzustrengen, diese nicht zu übersehen, seinen Ausdruck findet.

Wem „große Dinge“ zuteil sind, der/die aber hat mehr Freiheit, auch die kleinen Augenblicke, Geschehnisse und Geschenke wahrzunehmen, als jener Mensch, der von Sorgen belastet in diesen und jenen Zwängen, Ängsten und  Nöten lebt. Nicht zuletzt hat er/sie mehr seelische Freiheit.

Seelische Freiheit ist nicht einfach erlernbar, Optimismus lässt sich nicht aus einer Infusion gerieren.

Für die eigenen Ängste, Nöte  und die Zwänge, in denen ein Mensch lebt, trägt er nie nur selbst die Verantwortung. Viel öfter ist es so, dass vieles, auch viel  „Äußeres“, Umstände, Abläufe, Rahmenbedingungen und, ja, auch andere Menschen,  für tatsächliche oder empfundene seelische Unfreiheit in hohem Maße verantwortlich sind.

Wie viele gute Nachrichten hat ein Tag heute noch? Wie viele beunruhigende, besorgniserregende, schreckliche stehen dagegen? Und welches sind die stärkeren, die mächtigeren, die nachhaltigeren von beiden? Die Antwort ist eindeutig, seit Wochen, Monaten, Jahren schon. Seelen, die Liebe atmen, ertrinken darin, längst nicht mehr nur die sensiblen, und werden krank daran und bleiben es.

Die Welt, die diese Nachrichten gebiert, ist von Menschen verursacht, und also sind es auch all die Scharmützel und Intrigen, die Rücksichtslosigkeit und die heuchlerisch verbrämte oder offen zutage getragene Gier, die Kriege mit Waffen und mit Worten und all das im Großen wie im Kleinen, jedes Molekül dessen, was Gesellschaft ausmacht durchdringend. Die meisten Versprechen entpuppen sich als Lügen und Aufrichtigkeit wird mehr und mehr zu einem Fremdwort für das es nirgends mehr eine Übersetzung gibt. Und eines Menschenlebens Wert bestimmt sich immer noch und immer stärker abhängig von der (Un)gnade der Geburt auf diesem oder jenem Teil der Erde, in dieser oder jener gesellschaftlichen Schicht, mit dieser oder jener Hautfarbe oder diesem oder jenem Geschlecht.

Ich habe mich Zeit meines Daseins immer aktiv dagegen zur Wehr gesetzt, fatalistisch zu sein oder zu werden. Dafür habe ich mich ganz von selbst immer wieder an den und auf die „kleinen“ Dinge(n) orientiert. Für sie dankbar zu sein, daran musste mich nie jemand erinnern. Ich fand das schon immer ein bisschen merkwürdig, und empfand dahinter manches Mal auch eine gewisse Janusköpfigkeit verborgen, wenn ich auf das doch notwendige Dankbarsein hingewiesen worden bin. „Sei gefälligst dankbar, dann geht’s dir auch gut!“

Aber so funktioniert das nicht. Ich habe bis heute, durch all meine teils wirklich schweren und schwierigen Episoden nie verlernt dankbar zu sein und Dankeschön zu sagen. Aber gesundet bin ich deshalb nicht. Und auch die wirklich etlichen und meist sehr fordernden Versuche, durch Veränderungen vor allem des eigenen Berufslebens in dieser Hinsicht noch einmal etwas Nachhaltiges zu erreichen, sind letztlich nicht erfolgreich verlaufen.

Mich holt das Leben, das menschliche Dasein, so wie es ist, ein. Und es fühlt sich für mich an, als sei ich quasi morgen im Begriff, von ihm verschluckt zu werden, in ihm zu ertrinken.

Manches im Mikrokosmos dessen, was mein Privatleben ausmacht(e) und was mir einst Halt gegeben hat, ist in diesem Prozess auch abhanden gekommen, verloren gegangen.

So schaue ich ratlos in und auf die Welt. Ich tue das zwischen Freude, Scham und Verzweiflung:

Freude, darüber dass ich jede schöne Kleinigkeit immer noch sehr höre, spüre, auch, wenn ich darüber immer häufiger, still in der Seele, wenn es mich sehr trifft aber auch sichtbar, zugleich weine.

Scham, darüber, nicht stärker zu sein, immer weniger bestehen und meine Ideale aktiv und offensiv verfechten zu können und vieles dessen, was ich „Wert“ nenne, vergehen zu sehen, ohne das aufzuhalten zu vermögen. Scham auch und sehr stark, weil mein Leben im Unterschied zu so vielen anderen doch immer noch ein gewaltiger Luxus ist.

Und Verzweiflung, weil ich die Gewichte ungeachtet des „Kleinen“, was ich wahrnehme, sich weiter verschieben sehe, dahin, wo es kein gutes Ende nehmen kann und weil die Zeit, wo immer ich sie rinnen sehe, vergeht und abnimmt und für immer mehr werdendes „Manches“ schon zu wenig ist, wird und bleibt.

Wie kann bei all dem eine Seele da frei sein, frei werden? Ich meine WIRKLICH frei!

Mehr als das „kleine Ding“ des Aufatmens, welches die „kleinen Dinge“ hin und wieder verursachen, gelingt ihr nicht mehr und ist da nicht mehr.

Nur, dass sie bis zum Ende bemüht sein wird, Liebe zu verschenken.

*

Es dauerte noch drei Jahre lang, nachdem sich Sierra Lundy und Jon Middleton irgendwann im Sommer 2012 auf Salt Spring Island begegnet waren, ehe sie gemeinsam zu singen begannen. Das kanadische Duo nennt sich seither „Ocie Elliott“. Zwei Alben hat es bisher veröffentlicht, in den Jahren 2019 und 2020. „Like a river“ ist der Titel einer aktuellen Single dieser beiden Künstler, die immer noch ein „Geheimtipp“ sind. Das Lied von dem Fluss ist wunderschön, so, wie der Fluss selbst wunderschön sein muss. Ich freue mich, dass ich ihn wenigstens hören kann … :

Ocie Elliott – Like a river“

7 Gedanken zu “Tagebuchseite -940-

  1. Mein Lieber!
    Ich wünschte, es gäbe Worte, mit denen ich dir deine Bürde nehmen könnte. Ein Zauberwort, dass plötzlich alles ganz leicht für dich macht. Doch leider funktioniert es nicht so…
    Ich sende dir ein großes Paket mit Kraft!
    Liebe Grüße und feste Umarmung vom Lunchen

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    • Ich weiß, dass Du das tun würdest. Du bist ein zutiefst lieber und Anteil nehmender Mensch. Dein Paket und Deine Umarmung sind angekommen – ich schätze sie über die Maßen, mein liebes Lunchen ❣ – Ganz liebe Grüße an Dich! 💚🌻

      Gefällt 1 Person

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