Tagebuchseite -928-

Limit

Hätte diese Tagebuchseite seit meinem letzten Eintrag aufgeschlagen dagelegen, wären womöglich erste Spuren von Vergilben an ihr zu erkennen gewesen. Ein unbeschriebenes Blatt von einem Hauch Vergänglichkeit überzogen.

Was für eine Metapher! Noch während ich sie eben niedergeschrieben habe, ist sie auf Reisen gegangen und hat dabei einige meine Gedanken mitgenommen und neue entstehen lassen.

So etwas ist lange nicht mehr geschehen, dabei liebe ich das so. Es ist meine ureigene Art, auf Wanderschaft zu sein. Nur so vermag ich zu finden ohne zu suchen. Nur so behalte ich Sinn. Nur so kann ich leben, ist Leben für mich.

Die vergangenen beiden Wochen war kein Leben. Ein paar Lebenszeichen hatte es. Nicht aus mir heraus. Um mich herum. – Immerhin habe ich sie noch bemerkt.

Ich bin so dünnhäutig geworden, dass ich mich gar für einen kleinen Moment, eine Sekunde nur, nicht mehr beherrschen konnte, reagiert habe, wie ich sonst nicht reagiere, weil es nicht ICH ist. Ich war erschrocken darüber und ich habe mich geschämt dafür. Das wirkt bis heute nach …

Da war ein Tröpfchen, ein Mikrogramm zu viel. Ich weiß, dass, so wie es ist, es wieder geschehen kann. Umso mehr wehre ich mich dagegen. Ich möchte ICH bleiben, trotz allem und egal was geschieht.

Offensichtlich hat das Frühjahr des vorigen Jahres eine Zäsur gesetzt. Eine Zäsur für mich. Unabhängig von dem Virus, das seinerzeit seinen Präsenzzug längst angetreten hatte und das zweifellos einen immer spürbarer werdenden Beitrag reproduziert, der hinzukommt zu all dem anderen, der all das andere noch schlimmer, noch schwerer, fühlen und ertragen lässt.

Damals muss mich ein Zug mitgenommen haben und ich bin seither auf einer bizarren Reise, auf deren Verlauf und Ende ich keinen Einfluss habe, weil der Zug fremdgesteuert ist. Von außen. Wenn ich in den Führerstand blicke, sehe ich, wie da ein Programm abläuft. Anzeigen schlagen aus, Knöpfe blinken, das Steuer scheint ein virtuelles zu sein. Was ich auch zu berühren, zu verstellen suche, nirgends ist ein Hebel, nirgends ein Schalter, die sich betätigen lassen.

Die Geschwindigkeit des Zuges ist rasant, manchmal buchstäblich atemraubend. Und er rast dahin, immer wieder zackige Kurven nehmend und durch dunkle Tunnel heulend, eine lange surreale und doch so unbestreitbar wirkliche Strecke, die keinen Platz, keinen Raum, keine Zeit für Metaphern kennt.

So reise ich dahin, seit etwa einem Jahr.

Mein Vater reist mit und mein Privatleben und meine Persönlichkeit. Wir passieren Bahnhöfe, ohne dass es einen Halt gibt, Bahnhöfe, die alle denselben Namen tragen: LIMIT.

Wenn und weil das so ist, reicht manchmal ein Tröpfchen …

Die Lebenszeichen rühren mich, berühren mich, lassen mich in stiller Freude weinen. Vor dem LIMIT wird ihre Schönheit so groß, so strahlend, dass es ein bisschen  weh tut. Mein einziger süßer Schmerz! Lieder, die sonst niemand kennt, Gesten, die nur ich verstehe, Bilder, die ich schauen kann, ohne das sie jemand gemalt hat, Zeilen, geschrieben von einer zu mir ausgestreckten Hand, so einzigartig, dass ich mich zwischen sie legen und ein bisschen Geborgenheit finden kann.

Wieder habe ich soeben ein Schild mit der Aufschrift LIMIT passiert, aber ich darf ein bisschen träumen, das erste Mal seit Tagen. Weil da das Geschenk von ein paar Minuten ist, mich an ein Lebenszeichen zu erinnern.

Aus Lebenszeichen, manchmal auch aus Erinnerungen an sie, werden Metaphern geboren. Metaphern, die Gedanken mitnehmen und entstehen lassen.

Wenn das geschieht, kann ich schreiben.

Aber die Reise geht weiter …

***

Hinter dem Namen „mxmtoon“ verbirgt sich eine junge Frau mit dem Namen Maia. Im September des Jahres 2000 geboren, ist sie heute auf dem Portal „youtube“ aktiv, schreibt Lieder und singt sie auch. Viele Werke gibt es von ihr offenbar noch nicht, aber das eine, ganz aktuelle Lied hier, das ich kürzlich entdeckt habe, hat mir sofort so sehr gefallen, dass ich es gern heute teilen möchte. Text, Melodie und Stimme bilden eine sehr schöne, melancholische Interpretation – für mich ist es ein Lebenszeichen (sic!):

mxmtoon – „Creep“

11 Gedanken zu “Tagebuchseite -928-

  1. Wieder einmal ein wunderschöner Text. Lieber Sternflüsterer, bitte sei nachsichtig mit Dir. Wir haben besondere, schwierige Zeiten, in denen fast jeder sich selbst auf eine neue Art und Weise kennenlernen muss. Jeder Mensch hat Grenzen und manchmal ist es sehr gut, daran erinnert zu werden, weil wir dann besser auf uns acht nehmen können. Fehler zu machen ist das Menschlichste, das es gibt, und nichts, wofür man sich ewig bestrafen sollte. Ich denke an Dich und schicke Dir sonnige Grüße!!

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    • Deine Gedanken für mich bedeuten mir sehr viel. Sie sind mir Hilfe, vor allem, weil ich weiß, dass ein Mensch mit einer schönen Seele sie für mich hat. Dankeschön, liebe Doktor Reed!

      Herzlich liebe Grüße an Dich! 💙🌷

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