Tagebuchseite -747-

Gedanken und Erkenntnisse über (meine) Sensibilität

Ich weiß, dass es grundsätzlich immer ein gut gemeinter Rat war und ist, wenn mir jemand sagt: „Lass das doch nicht so sehr an dich heran!“ Früher habe ich darauf oft geantwortet, dass ich das schon versuche aber dass es mir letztlich doch nie wirklich gelänge. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte, mich abwenden, mich etwas Anderem zuwenden, „abschalten“, etwas ignorieren. Ich wusste und spürte es ja doch, dass es da war. Und wie! –

Mich gänzlich abzuschotten, gar keine Zeitung aufzuschlagen, nicht mehr unter Menschen zu gehen, das hingegen habe ich nie geschafft. Und ich denke auch, dass das keine Lösung gewesen wäre, wo ich es zumal unter vielen Menschen sowieso schon schwer genug habe, zu bestehen.

Ich habe schon, seit ich denken und mich erinnern kann, immer sehr viel, sehr unmittelbar, mit allen Sinnen wahrgenommen, gespürt und in mir behalten, wo es dann „gearbeitet“ und vor allem mein Gewissen beständig mit Fragen bedacht hat: Ist das so gerecht? Kannst Du da einfach zusehen? Wie stellst Du Dich dazu? Wie bereitest Du Dich darauf vor, das zu meistern, etwas zu verändern? Bist Du schon zufrieden mit dem, was Du Dir überlegt, was Du getan hast?

So viele und noch viel mehr Fragen, und die eben zuletzt aufgeschriebene habe ich praktisch ausschließlich mit „Nein“ beantwortet.

Irgendwann wurden es zu viele Wahrnehmungen, zu viele Eindrücke, zu viele Fragen, zu viele Versuche, sie immer wieder und möglichst alle zu beantworten und entsprechend der Antworten zu handeln.

Ich bin krank geworden daran, ziemlich krank.

Es gab Menschen, die mich selbst dann noch begleitet haben, andere konnten oder wollten das nicht mehr. – Ich konnte das gut nachvollziehen, gut verstehen und manchen habe ich dazu innerlich dazu sogar beglückwünscht. Denn es mit mir auszuhalten, mich zu begleiten, kostet mutmaßlich viel Kraft, ist mutmaßlich zerstörerisch, eben auch für den oder die jeweiligen Begleiter.

Ich habe immer wieder Hilfen und Ratschläge bekommen, auch solche, die ich wie Vorwürfe oder „platte Beruhigungsversuche“ aufgefasst habe: „Häng‘ doch Deine Sensibilität nicht immer so hoch!“, „Du wirst auch noch ruhiger werden, das kommt mit den Jahren!“ Du wirst Dich nie ändern, Du kritisierst und bist selbst voller Fehler, Du bist anmaßend und pedantisch! Mach Dein Ding aber verschone andere Menschen, ich habe jedenfalls genug!“, „Deine ewigen Denkschleifen, immer dasselbe, das geht mir auf die Neven, nie zufrieden, nie wirklich glücklich. Du bist weit weg von dem, was Leben ist und ausmacht, verlange das nicht auch von anderen!“

Etliches davon stimmt, ich weiß.

Noch heute, obwohl ich, nachdem ich akut krank war, Änderungen versucht und auch einige erlernt habe und nach wie vor lerne. Ein paar sehr, sehr geduldige Menschen halfen und helfen mir dabei.

Ich war sehr sensibel, immer schon, und ich werde es bleiben. Sensibilität kann man nicht abgeben wie ein abgetragenes Kleidungsstück. Sie ist Wesen und wesensbildend. Man kann sie auch nicht abschalten oder leiser drehen oder dimmen. Sie ist wie sie ist und sie lässt alles herein zu mir, in mein Inneres. Alles! Vieles darunter, was andere Menschen nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen, nicht riechen, nicht spüren. Sehr vieles.

Sensibilität kommt so leise daher. In dem aber, in dem sie wohnt, ist sie LAUT und bleibt sie laut, ganz laut!

Manche sagen, sehr sensibel zu sein, das sei eine Gabe. Ich sage das auch. Und ich sage nicht (mehr) dass es doch auch ein Fluch ist. Aber es ist ungemein anstrengend, fordernd, Kraft raubend. Und es kann zerstörerisch sein. Umso mehr, wenn man eben sehr sensibel ist. Das ist vielleicht die wirkliche Tragik der Sensiblen.

Ich bin innerlich nicht „ruhiger“ geworden mit den Jahren, „im Alter“. Im Gegenteil. Mich bewegen heute noch viel mehr Dinge und Abläufe, (vermeintliche) Fakten und Entwicklungen als früher – die Welt ist so viel komplexer und komplizierter geworden. Ich mag nicht alle davon wirklich verstehen, sie nicht so wahrnehmen, wie sie tatsächlich sind, aber sie strömen auf mich ein, gehen in mein Inneres und „arbeiten“ dort. So vieles sehe ich als ungerecht, als falsch, als fatal an, gegen Menschen, Menschengruppen, Einzelpersonen und gegen die Natur gerichtet.

Vieles, was ich dazu und darüber denke, ist unpopulär, wie ich immer wieder bemerke, teilweise sehr unpopulär. Und ich will oft „zu viel“ oder weiß doch selbst nicht, wie ich oder sich etwas verändern, anders, gerechter, humaner, aufrichtiger werden soll. Weil so viele der Dinge, der Entwicklungen, die mich bewegen, die mich umtreiben, so komplex, so kompliziert sind.

Nachdem ich akut krank war, habe ich mich zurückgenommen. Weil ich es musste, weil ich tatsächlich nicht mehr (anders) konnte. Habe mich aus einer sehr langjährigen beruflichen Tätigkeit verabschiedet, habe nahezu alle Ehrenämter aufgegeben. Das ist mir schwer gefallen, kam mir so vor als hätte ich plötzlich begonnen, mich selbst zu verleugnen. Und ich habe mich dafür geschämt.

„Tu etwas im Kleinen, damit tust Du viel, damit tust Du das, was Du kannst, was Dir eben möglich ist!“ –

Wieder so ein „Rat“!

Wahrscheinlich habe ich ihn letztlich unbewusst sogar befolgt, weil es für mich anders eben wirklich nicht mehr weiterging. Zufrieden bin ich damit allerdings nicht wirklich. Ich akzeptiere es aber mittlerweile. Zähneknirschend. Weil ich muss.

Meine Sensibilität, meine Denkschleifen, mein Hinterfragen, Grübeln und Träumen sind deshalb nicht weniger geworden.

Ich sehe, höre, spüre so viel Schönes, was unseren Planeten ausmacht, die Menschen, die ihn bevölkern ausmachen kann und manchmal auch ausmacht. Ich spüre es so unmittelbar, so tief, dass es in mir bebt, dass ich Tränen nicht zurückhalten kann, dass ich all meine Wärme, alles was Herz an mir ist und sanft und Rücksicht und Aufrichtigkeit, Dankbarkeit und Demut sofort und unmittelbar in die Waagschale werfen möchte, damit das Gute siegt, damit Frieden sei, damit Menschen einvernehmlich und respektvoll miteinander leben.

Ich sehe, höre und spüre aber auch all das, was ich als Ungerechtigkeit wahrnehme. Ich sehe, höre und spüre Habgier und Diskriminierung, Respektlosigkeit und Gewaltstreben, Zerstörung und Egoismus, die „Faszination“ von Macht und die große Gleichgültigkeit. Das alles spüre ich ebenso unmittelbar. Und es tut mir weh, sehr weh. Unmittelbar und buchstäblich und oft tatsächlich körperlich!

Und das macht, dass ich das Spüren des Schönen immer wieder auch als Schmerz empfinde. Es ist so schön und doch so bedroht! Das Bunte, das Weibliche, das Bescheidene, das Rücksichtsvolle, das Ursprüngliche, das, was „anders“ ist.

Ich habe immer noch keine Ahnung, wie ich das anstellen soll, mich abwenden, mich etwas Anderem zuwenden, „abschalten“, etwas ignorieren. Ich weiß und spüre es nach wie vor, dass es da ist. Und wie! –

Manchmal freilich, das gehört zu dem, was ich erlernt habe, wende ich mich bewusster etwas von dem zu, was SCHÖN ist. Einem Buch, einem Waldweg, einer Musik, einem Menschen. Das SCHÖNE hat meine Aufmerksamkeit wahrhaft verdient. Und es gibt mir sooo viel zurück. So Wichtiges!

Damit ich so oder so meine Sensibilität weiter (über)leben kann.

***

Heute habe ich ein wundervolles Lied von einer Sängerin, die vor ein paar Jahren auch in Deutschland eine gewisse Popularität erlangt hat, inzwischen aber wohl schon wieder weitgehend „vergessen“ ist. So kurzlebig ist alles geworden. – Dies Lied hier gehört für mich zu den schönsten der australischen Sängerin Delta Goodrem. Der Text passt sogar in gewisser Weise zu meinem heutigen Eintrag:

Delta Goodrem – „Only Human“

7 Gedanken zu “Tagebuchseite -747-

  1. Daß Du nicht die ganze Welt retten – auch wenn Du es wahrscheinlich gern möchtest – ist ja gewiß. Aber mir scheint, als wenn Dein feines Empfinden für die Dinge Deine große Stärke ist. Und vielleicht auch Deine Bestimmung.
    Da tust Du das, was Dir möglich ist. Das sehen wir ja auch immer wieder in Deinen mitfühlenden Kommentaren in anderen Blogs, die Du bereicherst. Ich denke, Du wirst auch hören, wenn Du bei Anderen Saiten zum Klingen bringst und wünsche Dir, daß dieser Klang Dich erfüllen möge.

    Gefällt 1 Person

  2. Lieber sternenfluesterer,
    du schreibst deine Beiträge so wundervoll wie deine Kommentare. So wird es Zeit auch mal bei dir einen Kommentar in der Art zu hinterlassen. Ich möchte dir vom Herzen für deine lieben Kommentare auf Smile Time danken und die damit verbundene Unterstützung. Leider wird mein Blog nächste Woche offline gehen, weil es sein muss. Aber ich wünsche Dir, dass dein Blog noch länger Bestand hat! So jetzt schicke ich diesen Kommentar in die Umlaufbahn und wünsche Dir Alles Gute!
    Liebe Grüße,
    Anna von smiletime

    Gefällt 1 Person

    • Liebe Anna,

      ich habe soeben schon „bei Dir drüben“ ein paar Worte und Gedanken geschrieben. –

      Da Du hier aber nun noch einmal so ausdrücklich so ein freundliches, schönes Dankeschön für mich hinterlassen hast und so ein großes Kompliment, was meine Einträge angeht, so kann und möchte ich hier nicht einfach sprachlos bleiben, obwohl Deine Zeilen mich das eigentlich gerade sein lassen.

      Ich danke DIR, dass ich Dich eine Zeitlang hier begleiten durfte, und ich freue mich sehr, dass ich Dir wohl ein angenehmer Begleiter war und Du Dich sogar unterstützt gefühlt hast.

      Auch wenn Dein Blog nun offline gehen wird, hoffe ich ein bisschen, dass Du immer mal hier vorbeischauen (vielleicht auch ab und zu kommentieren?) magst. Und, wenn Dich etwas bewegt – egal, was es ist, wenn Du (m)eine Meinung zu einem Thema erfahren möchtest, oder sonst ein Anliegen hast, welches Du teilen möchtest, dann ist da oben auf meiner Seite ein Kontaktbutton. Den darfst Du gern jederzeit nutzen.

      Das solltest Du noch wissen.

      Auch von dieser Stelle noch einmal alles nur LIebe für Dich! 🙂

      Like

  3. Du sprichst mir aus der Seele und ich erkenne mich in Vielem, was du schreibst, wieder.

    Ich freue mich, dass du nicht versuchst deine Sensibilität zu „dimmen“. Ich kann das manchmal. Aber dann ist mir die Welt egal. Wo all das Eingang findet, was zu viel ist, kommt auch all das herein, was das Leben so unglaublich bereichert. Hoffentlich geht es mir eines Tages wie dir, dass ich die Sensibilität als Geschenk ohne Fluch annehmen kann. Im Augenblick bin ich noch in der Verhandlung und auf der Suche, wie ich sie für mich „nutzen“ kann (abgesehen natürlich von der unglaublich großartigen Genussfähigkeit, die sie mir schenkt) und wie ich mit den Belastungen umgehen kann, ohne mich in ungesund enge Schneckenhäuser zu verkriechen.

    Schön, dass deine Selbstreflexion mit einer so positiven Note endet.

    Vielen Dank übrigens auch für die Erinnerung an Delta Goodrem.

    Gefällt 1 Person

    • Oh, Du verstehst mich sehr gut, glaube ich, liebe Simone.

      Meine Sensibilität zu dimmen zu versuchen hat keinen Sinn. Das habe ich herausgefunden. Ich kann (und will) das auch gar nicht bewusst steuern. –

      Ohne mein Zutun rutsche aber auch ich immer noch in Phasen, wo ich die Welt um mich herum noch wie durch einen Schleier wahrnehme – das sind die Phasen meiner mal nicht so tiefen, mal aber auch sehr tiefen Täler. – Ich wäre insoweit gern schon ein ganzes Stück weiter – aber depressive Phasen zu steuern ist eine sehr schwierige Herausforderung.

      Ich denke, das schreibe ich hier jemandem, der das mindestens ebenso gut weiß, wie ich.

      Ich denke allerdings, diese Frage betreffend auch, dass „ein bisschen Schneckenhaus“ manchmal sogar gut, wenn icht gar wichtig ist. Innehalten, sich sortieren, Atem schöpfen, sich aufs neue so weit annehmen, wie es nur geht.

      Das versuche ich seit meiner Entlassung aus der Klinik bewusster.

      Manchmal gelingt es schon ein bisschen besser …

      Ganz liebe und Dir Kraft spenden wollende Grüße!

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar