Tagebuchseite -469-

Die Realität des weißen Blattes oder wo ist mein Platz in dieser Welt?

Wie viele oder wie wenige Menschen meines Alters fragen sich (noch), wo ihr Platz in dieser Welt, in diesem Leben ist? Wer sich so etwas fragt und in meinem Alter ist, dem wird mutmaßlich wohl recht grundsätzlich unterstellt, dass er sein bisheriges Leben nicht recht auf die Reihe bekommen hat, dass da offenkundig einiges falsch oder verquer gelaufen ist. Mit 53 sollte man seinen Platz doch eigentlich gefunden haben, sozusagen mit beiden Beinen fest im Leben stehen.

Ich habe dieses Empfinden nicht.

Gut, ich habe eine kleine Familie. In der habe ich einen Platz, und ich werde vermutlich auch immer einen Platz darin haben. Welchen, das ist schon eine andere, die schwierigere Frage. Sie ergibt sich folgerichtig, weil ich ansonsten gerade keinen Platz, den ich zu benennen, den ich als den meinen zu bezeichnen imstande wäre, habe.

Schon mehr als ein Jahr arbeite ich nicht mehr. Und den Arbeitsplatz, den ich bis dahin hatte, den werde ich nicht mehr besetzen können. Diese Situation hatte ich schon einmal in meinem Leben. Damals war ich ein bisschen mehr als halb so alt wie jetzt.

Kürzlich las ich einen ebenso amüsanten gleichzeitig aber auch interessanten und zum Nachdenken anregenden kleinen Artikel, ausgerechnet im Fernsehmagazin („Prisma“), das einer meiner beiden abonnierten Tageszeitungen beiliegt. Darin ging es um das gekonnte Verfassen von Liebesbriefen.

Es ist gar nicht so weit hergeholt, wie es dem ersten Empfinden nach scheinen mag, dass das Finden eines guten Beginns für einen Liebesbrief und die Suche nach einem neuen Platz im Leben einige Parallelen aufweist. So stand in jenem Artikel unter anderem zu lesen:

„Wenn nur die Realität des weißen Blattes nicht wäre … Sie tendiert dazu, jede Zeile unnötig zu erschweren und die Gedanken in Konfusion zu stürzen.“

Genauso fühle ich, wenn ich über meine berufliche Zukunft, mein künftiges Leben nachdenke. So, wie ratlos vor einem weißen Blatt Papier sitzend.

Dabei stimmt das mit dem weißen Blatt so eigentlich gar nicht. Das Blatt, vor dem ich sitze, ist längst kein weißes mehr. Es steht schon vieles darauf. Über mein ganzes bisheriges Leben! Über die Wege, die ich bisher beschritten habe, über Menschen, die diese Wege mit mir teilten, über Freuden und Kümmernisse, die mein Leben ausgemacht haben, darüber, wo bisher mein Platz in dieser Welt, in diesem Leben gewesen ist. Jener Platz, den es nun nicht mehr gibt.

Dieses schon ziemlich vollgeschriebene Blatt, macht die Gedanken um einen neuen Platz in dieser Welt für mich nicht leichter. Wie viel oder wie wenig Platz ist auf dem Blatt noch, um einen neuen Platz im Leben zu finden und zu beschreiben? Wenn das Blatt der Spiegel meiner Seele ist, dann ist das für mich eine ziemlich bange Frage.

Ja, meine Gedanken sind in Konfusion. – Mein Arbeitgeber hat sich nach wie vor nicht gemeldet, das macht meine Unsicherheit nicht kleiner. In meinem Inneren habe ich nun eine Frist gesetzt, bis zum Ende des Monats, dann werde ich wohl eine telefonische Nachfrage wagen.

Wenn ich nur ein bisschen besser wüsste, wie viel wirkliche Kraft noch in mir steckt, wo und wie ich noch einmal wirklich nützlich sein kann. Und mir dessen dann bewusster werde, als während der langen verflossenen Jahre an meinem alten Platz.

Im Grunde bin ich mir darüber nach wie vor nicht bewusst – in mir dominiert unverändert das Empfinden, letztlich sehr wenig bewegt und erreicht zu haben. Ungeachtet dessen, dass ich weiß, dass manche Zeitgenossen, die mich mehr oder weniger kennen und begleitet haben oder nach wie vor begleiten, das völlig anders sehen und ich selbst, seit ich das weiß, bemüht bin, meine eigene Einschätzung wenigstens zu relativieren.

So ist eigentlich die Frage, welchen Platz ich bisher in dieser Welt hatte, wie ich ihn ausgefüllt habe, noch nicht einmal erschöpfend beantwortet. Aber die neue Frage ist schon da, die nach einem neuen, einem anderen Platz, und sie kommt mir nicht nur drängend vor, sie ist es wohl auch.

Eben hat gerade meine Krankenkasse angerufen, wie es denn aktuell so mit mir stehe, weitergehe …

Und schon geht das mit dem inneren, sich wie Angst und Panik anfühlenden Druck in mir wieder los.

Gesund ist das nach wie vor nicht, aber ich habe ja erfahren, dass ich damit leben lernen muss, und die Frage nach meinem (neuen) Platz in dieser Welt, diesem Leben, meinem Leben, steht nun einmal …

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